Fortsetzung.
S. B.: "Ihr habt diese Schlacht begonnen, nicht ich. Meine Handlungen sind ein Resultat eurer Welt, eine Welt die mich nicht sein lassen will wie ich bin. Ihr habt euch über mich lustig gemacht, dasselbe habe ich nun mit euch getan, ich hatte nur einen ganz anderen Humor!"
S. hat recht: Die Welt, von der er sich bedroht fühlt und gegen die er sich auflehnt, ist an diesem "Kampf" beteiligt. Aber die Verantwortung liegt auch auf seiner Seite. S. hat gut gelernt, wie man in unserer Welt mit Verantwortung umgeht: für die negativen Resultate schiebt man sie nach außen ab, auf die Anderen. Man definiert sich als das Opfer von Verhältnissen, man "wehrt" sich bloß. Wo sehen wir in unserer Gesellschaft unsere Verantwortung nicht?
S. B.: "Von 1994 bis 2003/2004 war es auch mein Bestreben, Freunde zu haben, Spass zu haben. Als ich dann 1998 auf die GSS kam, fing es an mit den Statussymbolen, Kleidung, Freunde, Handy usw.. Dann bin ich wach geworden. Mir wurde bewußt, dass ich mein Leben lang der Dumme für andere war, und man sich über mich lustig machte. Und ich habe mir Rache geschworen!
Diese Rache wird so brutal und rücksichtslos ausgeführt werden, dass euch das Blut in den Adern gefriert. Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst!
Ich will dass ihr erkennt, das niemand das Recht hat unter einem faschistischen Deckmantel aus Gesetz und Religion in fremdes Leben einzugreifen!
Ich will das sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt!
Ich will nicht länger davon laufen!
Ich will meinen Teil zur Revolution der Ausgestossenen beitragen!
Ich will R A C H E !"
S. begründet seine Rachegedanken mit der Schuld der anderen, ihn gedemütigt und in sein Leben eingegriffen zu haben. Er fühlt sich als Ausgestossener, wähnt sich aber dabei in einer unverbundenen Gemeinschaft mit vielen anderen imaginären Ausgestossenen, die er nicht kennt, aber zu deren "Revolution" er beitragen will. Obwohl er ausdrücklich "faschistische" Tendenzen, einen "faschistischen Deckmantel aus Gesetz und Religion" anklagt, wirkt seine Rechtfertigung einer alles übersteigenden, sich und andere vernichtenden Rache selbst faschistoid, denn er nimmt sich für seinen Rachefeldzug sehr wohl das Recht heraus, andere zu richten und in ihr Leben einzugreifen, in dem er es bedroht. Dabei hat er offenbar doch die Sehnsucht, in und durch diesen Racheakt ein Gesicht zu bekommen, das man nicht vergißt, ein Fürchterliches. Nach diesem Crescendo der Ankündigungen, wird er sein Vorhaben genauer erläutern:
S. B.: "Ich habe darüber nachgedacht, dass die meisten Schüler die mich gedemütigt haben schon von der GSS abgegangen sind. Dazu habe ich zwei Dinge zu sagen:
1. Ich ging nicht nur in eine klasse, nein, ich ging auf die ganze Schule. Die Menschen die sich auf der Schule befinden, sind in keinem Falle unschuldig! Niemand ist das! In deren Köpfen läuft dasselbe Programm welches auch bei den früheren Jahrgängen lief! Ich bin der Virus der diese Programme zerstören will, es ist völlig irrelevant wo ich da anfange.
2. Ein Grossteil meiner Rache wird sich auf das Lehrpersonal richten, denn das sind Menschen die gegen meinen Willen in mein Leben eingegriffen haben, und geholfen haben mich dahin zu stellen, wo ich jetzt stehe: Auf dem Schlachtfeld! Diese Lehrer befinden sich so gut wie alle noch auf dieser verdammten schule!"
S. erhebt konkrete Schuldvorwürfe gegen die Masse der früheren Mitschüler, das Lehrerkollegium, aber auch die Schule allgemein und den Geist an dieser Schule. Neben einer Rechtfertigung für seine Rache beinhaltet dieser Teil einen beunruhigenden Gedanken, der gar nicht so völlig abwegig ist: Unser zwischenmenschliches System in Institutionen wie Schule trägt dazu bei, dass Lieblosigkeit, Mangel an Mitgefühl und Solidarität, dass Ausgrenzung und Vereinsamung Fuß fassen kann - nicht muß. S. möchte der Virus sein, der dieses Programm zerstört. Hat er die Hoffnung, dass seine Tat uns zum Aufwachen bringt und dazu, uns nach unseren eigenen Verantwortlichkeiten zu fragen? Dabei sollten wir uns wohl davor hüten, anderen Schuld zuzuschieben, den Lehrern als Ganzes etwa oder allen Schülern oder Schule an sich, so wie es S. tut. Damit würden wir es uns zu leicht machen.
S. B.: "Das Leben wie es heute täglich stattfindet ist wohl das armseeligste was die Welt zu bieten hat! S.A.A.R.T.-Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod Das ist der Lebenslauf eines "normalen" Menschen heutzutage. Aber was ist eigentlich normal?"
Mit dieser Frage müssen wir uns tatsächlich beschäftigen. Was wollen wir vom Leben? Einerseits haben wir mehr, als noch im Mittelalter. Wer konnte damals in eine Schule? Wer bekam etwa eine Rente? Man arbeitete und starb oder man arbeitete nicht und starb. S. hat seine eigenen Antworten:
S.B.: "Als normal wird das bezeichnet, was von der Gesellschaft erwartet wird. Somit werden heutzutage Punks, Penner, Mörder, Gothics, Schwule usw. als unnormal bezeichnet, weil sie den allgemeinen Vorstellungen der Gesellschaft nicht gerecht werden, können oder wollen. Ich scheiss auf euch! Jeder hat frei zu sein! Gebt jedem eine Waffe und die Probleme unter den Menschen lösen sich ohne jedliche Einmischung Dritter. Wenn jemand stirbt, dann ist er halt tot. Und? Der Tod gehört zum Leben! Kommen die Angehörigen mit dem Verlust nicht klar, können sie Selbstmord begehen, niemand hindert sie daran!"
Sie könnten natürlich auch "Blutrache" begehen, die Angehörigen der Ermordeten. Die wirr und martialisch anmutenden Vorstellungen S.' lehnen neben der heutigen Gesellschaftsordnung an sich auch die Idee eines Gewaltmonopols gesellschaftlicher Organe ab, das verhindern soll, dass Einzelne sich nach Gutdünken massakrieren, was ja in der Regel zum "Recht des Stärkeren" führt. Da S. sich aber in dieser Gesellschaft entrechtet und ausgestoßen, also geschwächt und wehrlos vorkommt, hätte er gerne mit der Waffe in der Hand an den seiner Meinung nach Schuldigen, jedoch unbewaffnet Unterlegenen ein Exempel statuiert. Ob er glaubt, in einem Kampf unter Bewaffneten überlegen zu sein? Vielleicht dachte er, dann zumindest eine bessere Chance zu haben, als er sie gehabt zu haben glaubte? Eine solche Idee zumindest könnte er aus seiner Ballerspielerfahrung gewonnen haben, wenn er sich von Level zu Level gegen seine imaginären Gegner hochkämpfte. Jedenfalls vertraute er nicht mehr darauf, dass eine solidarische Gesellschaft auch ihn schützte und förderte, wenn er anders als die anderen, die "Normalen" sein wollte. Wenn man wieder einmal das transaktionsanalytische Vokabular anführt, vollzog er nun einen weiteren Schritt. Von der Einschätzung, dass er nicht okay sei, alle anderen aber auch nicht, entwickelt er sich nun weiter zu der Vorstellung, dass nur er okay ist, alle anderen aber nicht. ER möchte sich zum Herrn des Gesetzes aufschwingen und beansprucht als Außergesetzlicher das Recht des Handelns gegen jedermann, von dem er sich beeinträchtigt fühlen könnte, für sich.
S. B.: "S.A.A.R.T. beginnt mit dem 6. Lebensjahr hier in Deutschland, mit der Einschulung. Das Kind begibt sich auf seine persönliche Sozialisationsstrecke, und wird in den darauffolgenden Jahren gezwungen sich der Allgemeinheit, der Mehrheit anzupassen. Lehnt es dies ab, schalten sich Lehrer, Eltern, und nicht zuletzt die Polizei ein. Schulpflicht ist die Schönrede von Schulzwang, denn man wird ja gezwungen zur Schule zu gehen."
S. hat recht: mit der Einschulung findet für jedes Kind ein neuer Lebensabschnitt statt und der kann auch Einordnung, Normierung, Druck bedeuten. Offenbar hat S. diese Erfahrung gemacht, auch wenn er sie nicht explizit schildert. Die von den Erwachsenen erdachten Schulen mit ihren Lehrplänen und Bewertungssystemen unterwerfen die Schüler ständig Normen. Zum Teil fühlen sich die Schüler der Willkür ihrer Lehrer ausgesetzt. Bei Vergehen gegen die Schulordnung betrachtet sich die Institution Schule mit ihrer Leitung dem einzelnen Schüler gegenüber als gesetzgebende, richtende und vollziehende Gewalt: sie macht die Regeln, hütet sie, richtet über Verfehlungen, spricht die Strafen aus und vollzieht sie. Insofern könnte man die Schule als einen Ort betrachten, an dem wie in einem Großunternehmen die wirkliche Demokratie noch nicht angekommen ist. Eltern und Schüler haben nur ein begrenztes Mitspracherecht.
Es ist nun wiederum nicht sinnvoll, z.B. die Lehrer als Ganzes anzuklagen. Doch sollten wir uns alle fragen: Warum konzipieren wir Schule mit ihrer Schulpflicht und ihren Beamten als eine hoheitsvolle Angelegenheit und nicht als einen freien, freundlichen, die Neugier der Kinder weckenden Lernort? Warum müssen sich zuallererst schon die jüngsten Schüler der Schule anpassen und warum erweist sich die Schule immer noch trotz sinkender Schülerzahlen als vielfach unfähig, auf die Bedürfnisse und Besonderheiten der Schüler einzugehen und sie dort abzuholen, wo sie stehen? Sind es die Kinder nicht wert, in ihrer Besonderheit beachtet zu werden? Gilt nur, was meß- und normierbar ist, was mit Zensuren bewertbar ist?
Immer wieder hört man von überforderten und verärgerten Pädagogen, dass Schule nicht an Eltern statt erziehen könne, sondern allenfalls Wissen vermitteln und überprüfen solle. Ist das nicht blauäugig? Wird durch das "System" nicht eine besondere Art "staatsbürgerlichen Gedankenguts" vermittelt, mit dem Ziel einer reibungslosen Funktion in Arbeitsleben und Gesellschaft? Hat Unzufriedenheit und Protest einen Platz? Haben Spass, Spiel und Lust einen Platz? Soll in der Schule nicht mehr solidarisches gesellschaftliches Miteinander gelernt werden, ist Schule kein gesellschaftliches Experimentierfeld für junge Leute, sondern ein Exerzierfeld für kleine "Soldaten"?
Der "Einzelkämpfer" S., der sich so gerne als Soldat darstellte, hasst offenbar nichts so sehr, wie die Schule, die im Zentrum seiner Anklagen steht und von der er sich traumatisiert fühlt. Und doch erwähnt er in diesem Teil seines Briefes das erste Mal "Eltern", aber nicht in persönlicher Weise. Er argwöhnt und dies wohl zurecht, dass Eltern sehr oft von schulischer Seite beschuldigt werden, Erziehungspflichten versäumt zu haben und dazu herangezogen werden, die Disziplinierungsvorstellungen der Schule mitzutragen und zu unterstützen. Sollten Lehrer und Eltern nicht in gegenseitigem Respekt vor den jeweiligen verschiedenen Fähigkeiten und Aufgabenbereichen zugunsten der Kinder gemeinsam Lernfreiräume schaffen, statt sich gegenseitig zu Kontrolle und Disziplinierung aufzustacheln und sich jeweils die Schuld zu geben, wenn der Nachwuchs rebelliert?
S. B.: "Wer gezwungen wird, verliert ein Stück seiner Freiheit. Man wird gezwungen Steuern zu zahlen, man wird gezwungen Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuhalten, man wird gezwungen dies zu tun, man wird gezwungen das zu tun. Ergo: Keine Freiheit!
Und so was nennt man dann Volksherrschaft. Wenn das Volk hier herrschen würde, hiesse es Anarchie!
WERDET ENDLICH WACH - GEHT AUF DIE STRASSE - DAS HAT IN DEUTSCHLAND SCHON MAL FUNKTIONIERT!"
Der gesellschaftliche "Konsens" ist S. ein Dorn im Auge: Rechte und Pflichten: Diese Vorstellungen engen sein Konzept von Freiheit ein und er zweifelt am Demokratiekonzept "Volksherrschaft". Offensichtlich haben ihn die Bildungseinrichtungen unserer Gesellschaft nicht vermitteln können, dass er Mitwirkungs- und Teilhabemöglichkeiten hat. Da er sich als ein Verlierer dieser Gesellschaft wähnt, ist ihm das zu wenig und er fordert, gegen diese Ohnmacht vorzugehen. Da S' politische Bezüge oft sehr naiv erscheinen, kann nur vermutet werden, was er mit dem historischen Beispiel meint, auch wenn er sich im Folgenden von den so genannten "Nazis" abgrenzt.
S. B.: "Nach meiner Tat werden wieder irgendwelche fetten Politiker dumme Sprüche klopfen wie "Wir halten nun alle zusammen" oder "Wir müssen gemeinsam versuchen dies durchzustehen". Doch das machen sie nur um Aufmerksamkeit zu bekommen, um sich selbst als die Lösung zu präsentieren. Auf der GSS war es genauso... niemals läßt sich dieses fette Stück Scheisse von Rektorin blicken, aber wenn Theater-aufführungen sind, dann steht sie als erste mit einem breiten Grinsen auf der Bühne und präsentiert sich der Masse!"
Leider ist es tatsächlich oft so, dass viele Politiker mit populistischen "Schnellschüssen" in Form von wohlfeilen Rezepten zu noch mehr Kontrolle, Verbot und Disziplin dem entsetzten Wahlvolk nach Verbrechen, die sich durchaus auf dem Boden einer traurigen sozialen Wirklichkeit entfalten, versuchen, zu beweisen, dass sie das Heft des Handelns noch in der Hand halten. In der Stunde der Not erspart man sich die unangenehmeren Wahrheiten kompletter Hilflosigkeit und Trauer und natürlich die Einsicht in unser aller Versagen. Dabei ist es offensichtlich: Unsere Kinder und Jugendlichen leiden als erstes unter dem Geldmangel eines zusammenbrechenden Sozialstaatsmodels, das zunehmend nach den Wirtschaftserfordernissen globalisierter multinationaler Konzerne und Kapitalgesellschaften liberalisiert und dereguliert wird. Wie in den Kindertagen des Kapitalismus werden die Lasten sozialisiert, die Gewinne erst privatisiert und dann kapitalisiert.
Kinderreichtum bedeutet ein zunehmendes Armutsrisiko in der Bunderepublik. Kinderarmut nimmt zu. Die Armut nimmt in den Familien mit Kindern zu, vorallem in den Einelternfamilien, bei den Alleinerziehenden und dies sind immer noch vorallem alleinerziehende Mütter. Auch Frauenarmut nimmt damit zu. Die sozialen Leistungen zur Unterstützung dieser Kinder, Familien und Frauen nehmen ab. Den Schulen, Kindertagesstätten, Freizeiteinrichtungen fehlen Mittel und Mitarbeiter. Den Jugendämtern fehlen Gelder. Sozialämter und Arbeitsagenturen kontrollieren und trietzen die Menschen mehr, als dass sie ihnen helfen.
Bislang hat keine der großen "Volksparteien" in der "großen Koalition" diese wachsenden Probleme einer entsolidarisierten Gesellschaft wirklich im Blick, in der eine einkömmliche Lohnarbeit immer mehr zu einem seltenen Privileg zu werden droht, während sich unser altes Arbeitsethos, dass nur der etwas gilt, der sich aus eigener Arbeit ernährt, nicht geändert hat. Ein natürlich erscheinendes Ergebnis ist der drastische Geburtenrückgang und die Überalterung der Gesellschaft mit dem drohenden Kollaps der Sozialversicherungen nach dem Generationenvertragsmodell. Gleichzeitig leisten wir uns eine unfreundliche, abweisende Politik gegenüber zuzugswilligen jungen, kinderreichen Familien aus dem Ausland und sogar gegenüber Hilfsbedürftigen und Flüchtlingen! Legt S. nicht ohne es zu wissen seinen Finger tief in unsere gesellschaftlichen Wunden, wenn er uns einer gewissen Heuchelei zeiht?