Aus: "In diesem Jahr: Pfingsten und Muttertag an einem Sonntag"
Original von Michael
Dieses Jahr fällt das Pfingstfest auf den
Muttertag am 11.5.2008, der traditionell am 2. Sonntag im Mai ist. Hier gibt es durchaus heidnische Vorläufer in Form von Festen für die Mütter der Göttinnen und Götter. In der Neuzeit haben sich zuerst einige Frauenrechtlerinnen aus dem Umkreis der methodistischen Kirche in den USA für einen Tag zu Ehren der Mütter stark gemacht. Die Nationalsozialisten haben diesen Tag im Deutschen Reich dann ideologisch umgedeutet und die deutschen Mütter in ihren Rassenwahn integriert. Und natürlich ist der Muttertag auch im Laufe der Zeit kräftig kommerzialisiert worden. Die anfänglichen Beweggründe der frühen Frauenbewegten, endlich einmal auch der Dienste der Mütter in einer patriarchalen Welt zu gedenken, in allen Ehren, fragt man sich heute natürlich auch, ob den modernen Muttertag gerade diejenigen benötigen, die sonst nie auf die Idee kommen, ihrer Mutter oder Partnerin etwas Aufmerksamkeit zu schenken, zu helfen oder ihrerseits aus eigenem Antrieb etwas für die Familie zu tun.
LG Michael
Was ich da vor fünf Jahren schrieb, bezog sich auf den damals gerade 101 Jahre alten Muttertag, der über eine amerikanische Frauenbewegte - die waren damals zumeist religiös, Jarves war Methodistin - von den USA nach Europa herüber schwappte. Dieselben Frauenbewegten setzten sich auch für die Alkoholabstinenz ein und setzten am Ende sogar die Alkoholprohibition in den USA durch. Sie waren überzeugt, dass die Trunksucht vieler Männer Familien zerstörte, dass diese Trunkenbolde nicht nur ihr Einkommen versoffen, sondern auch ihre Jobs verloren und ihre Frauen und Kinder verprügelten. Das war auch eine durchaus richtige Beobachtung. Nicht berücksichtigt wurde, was entwurzelte und freudlose Menschen, die als Industrie- und Landarbeiter, kleine Kaufleute und Handelsreisende für den Erfolg des amerikanischen Kapitalismus schufteten, dazu trieb, im Suff das Elend ihres Lebens zu vergessen, auch das Elend ihrer Ehen und ihrer Frauen, das nicht von den religiösen Verheißungen und der christlichen Moral abgemildert, sondern allenfalls verschärft wurde.
Es liegt nahe, den "Muttertag" als einen Tag des schlechten Gewissens zu bezeichnen. Und als solcher hat er über hundert Jahre überlebt. Das schlechte Gewissen gegenüber den Frauen und Müttern ist noch viel älter. Aber jetzt hat man ja einen Dankabstattungs- und Vergeltsgottmuttitag. Es hat sich zwar Vieles in den letzten hundert Jahren in unserer Industriegesellschaft geändert und Mutterwerden und -sein wird als eine höchst freiwillige, selbstbestimmte Entscheidung jeder Frau bezeichnet, doch selbst wenn dies kultur- und religionsbereinigt so wäre, sind die Voraussetzungen für Frauen in ihrer Gesamtheit in den so genannten entwickelten Gesellschaften, Mutterschaft ohne Einkommensverlust, Rentenminderung, Karriereknick und Einbußen im Bereich des gesellschaftlichen und öffentlichen Rangs auch noch mehrmal zu erleben, nach wie vor schlechter, als für die dazugehörigen Väter.
Väter, die den Hausmannsjob mit Kindererziehung und Haushaltsführung vorziehen, sind eine teils bewunderte, teils bemitleidete Minderheit. Der Gleichheitsanspruch erwartet von männlichen und weiblichen Individuen hingegen eine gerechte Aufteilung von Erwerbsarbeit, Kindererziehung und Haushaltsführung. Männer, die das ernst nehmen, lernen nun erstmals die so genannte "Doppelbelastung" kennen. Frauen, die ihre Karriere ernst nehmen, kennen das sowieso schon seit Jahrzehnten. Das ist "normal". Frauen können das auch, einige wenigstens. Und manche Kinder und Väter honorieren das auch. Eher muss sich heute schon eine Frau dafür rechtfertigen, wenn sie eine Zeit lang Spaß - igitt, das gibt es wirklich?! - an der traditionellen Rollenaufteilung hat und ein paar Jahre kleinen Kindern zuliebe sehr viel zuhause ist. Ganz frech werden die dann sogar aus der Sicht der Konservativen, wenn sie dafür mehr vom Staat fordern: Gerechte Rente, Elterneinkommen, steuerliche Vorteile usw. Denn der Staat profitiert von jedem und jeder, die Kinder erziehen, hundertmal mehr, als er ausgibt. Kein Ehegattensplitting, kein Kinderfreibetrag, kein Kindergeld wiegt das auf, was Eltern der Gesellschaft durch künftige Arbeiter und Verdiener heranziehen, die die Renten und Sozialausgaben durch ihre Steuern und Sozialbeiträge erwirtschaften - im Gegensatz zu den multinationalen Industrieunternehmen und Banken, die jedes Steuerschlupfloch nutzen, um nichts zu zahlen.
So gibt es in der modernen Gesellschaft einige Gedenktage des schlechten Gewissens. Der Vatertag könnte auch einer sein, bei aller Zwielichtigkeit. Hier toleriert die Gesellschaft, sogar viele Mütter und Frauen, das Männer, Väter und solche, die es mal oder nie werden wollen, kontrolliert unkontrolliert einen Tag lang vom frühen Morgen an saufen, grölen, noch mehr saufen und durch Amnesie und Rausch-Vollnarkose eine Auszeit von ihrem ach so schweren Pflichtenelend nehmen. Tatsache ist, dass kein Rausch so toll und so groß sein kann, um das Elend zu vergessen, das Menschen sich und Ihresgleichen und dem Planeten durch ihre Art des Wirtschaftens und Arbeitens antun. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass das, was manche für den Gipfel der Freiheit und der Lust halten, in Kotzen, Koma und Frust endet, auch für die, die dann von den Besoffkis einen auf die Mütze kriegen.
Ja und die anderen Tage des schlechten Gewissens heißen dann eben "internationaler Tag der Frau" (8.3.), "internationaler Tag des Kindes" oder als "Feiertag" der "Tag der Arbeit" (1. Mai) oder eben "Muttertag". Der ist immer am Sonntag, damit kein wertvoller Arbeitstag verloren geht und der Partner statt zur Arbeit zu düsen, wenn er eine hat, den Sonntagstisch decken oder Frühstück ans Bett bringen kann und die Kinder Blumen aus den Nachbargärten klauen können, statt zur Schule zu müssen. Und alle können nett und erwartungsvoll gucken, ob Mami oder Mutti auch recht erfreut und glücklich guckt. Doch Enttäuschungen kann es auf beiden Seiten geben. Es gibt sogar die sich als emanzipiert einschätzenden Mütter, die vorher verkünden, dass Muttertag für sie nichts Besonderes wäre und sie auch gar nichts bräuchten und die dann scheel aus der Wäsche gucken und ernstlich während des ganzen Tages beleidigt sind, wenn Männe es vergessen hat, die Kinder noch mal an das Muttertagsbildchen und den Blumenstrauß zu erinnern.
Und natürlich gibt es die Frauen und Mütter, die wie schon am "Valentinstag" ihrem Allerliebsten auf's Butterbrot schmieren, - manchmal mit einer gewissen Berechtigung - dass er sich ja nur aus Pflichtgefühl ein paarmal im Jahr genötigt sieht, eine kleinere oder größere Aufmerksamkeit abzuliefern nämlich am Valentinstag, Ostern, am Muttertag, am Geburtstag, am Hochzeitstag, Nikolaus, Weihnachten und natürlich zum Geburtstag eines jeden Kindes. Wobei es schon stimmt: ein solcher Geburtstag ist ja auch wirklich ein Muttertag. Ich kenne es durchaus aus dem beruflichen Kontext und auch aus persönlicher Erfahrung, wie Kinder in Stress kommen können, es ihren Eltern und insbesondere den Müttern ja recht zu machen und wie schwer Missbilligung oder Nichtbeachtung die Kinderseele kränkt und wie schwer es nagt, nie genug tun zu können und gut genug zu sein, seine Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens, die Sorgfalt der Erziehung und das gut Versorgtwerden abzustatten. Auch Männer spüren, dass sie ihren Frauen und den Müttern ihrer Kinder etwas für ihr emotionales Engagement bei der Kinderaufzucht schulden, das sie nicht ausgleichen können, jedenfalls, wenn sensible Seelen sich entsprechende Vorhaltungen zu Herzen nehmen.
Weil das alles so ist und ein paar Feiertage viel zu wenig sind, um die Frauen und Mütter zu feiern, sagen die heutigen Alpha-Frauen aus Kirche und Gesellschaft, die jedes Jahr in der Zeitung und anderen Medien zum Muttertag, dessen Bedeutung und den Wünschen der Frauen gefragt und interviewt werden, dass es ja nur darum ginge, an diesem einen Tag besonders daran zu erinnern, dass der Frau und Mutter jeden Tag Dank und Aufmerksamkeit gebühren würde und dass es einfach jeden Tag und das ganz Jahr durch viel zu wenig ist und wohl auch in der weiteren Zukunft immer noch zu wenig bleiben wird. Puh, da haben wir es. Sollten wir Eltern aber tatsächlich Dankbarkeit unserer Kinder als Motiv und Ziel unserer Elternschaft betrachten, müssten wir entweder vertrocknen oder wir missbrauchen unsere Nachkommen. Es ist einfach nichts zu machen, solange unser schlechtes Gewissen klingelt. Tatsache ist aber auch, dass man sich dank eines Gedenktages wunderbar mit einem schlechten Gewissen arrangieren kann und eher geneigt ist, an den alten Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten festzuhalten, als sie zu ändern.
Die oberflächlichen Änderungen sind nämlich gar keine, sondern allenfalls Tarnung. Man zelebriert den Muttertag modern und kommerziell und tut ganz emanzipiert, indem man behauptet, eigentlich braucht man den ja gar nicht mehr. Frauen und Mädchen hätten die gleichen Rechte. Ja, haben sie. Aber auch die gleichen Chancen? Und den "Vatertag" zelebrieren die familienbezogenen Väter wie ich natürlich als Familienausflug mit den Kindern, deren Spaß an erster Stelle steht und wenn Papi Auto fährt, was er sowieso gern macht, trinkt er natürlich auch nicht. Das erste und letzte Mal, als ich am Vatertag durch Trunkenheit und Sonnenstich kurz derangiert war, war mit Achtzehn, als Nichtvater mit weiteren Nichtvätern und Nichtmüttern und einem ebenfalls ledigen, kinderlosen, trinkfreudigen Lehrer. Seitdem weiß ich die Sonne, den Wasserbedarf beim Fussballspielen an der See und Fuselalkohol besser einzuschätzen. Und in der Tat hätte ich nicht nur ein schlechtes Gewissen, an Himmelfahrt saufend auf Ego-Tour zu gehen, mich schrecken auch die albernen Bilder scheinbar fröhlichen Elends dieser Herrengrüppchen mit Bollerwagen voller Alkohol, die sich auch noch ein paar Alibi-Damen zur späteren Pflege mitnehmen.
Doch zurück zu den Müttern. Steigen wir noch etwas tiefer ein. Natürlich sind Frauen und Männer nicht gleich. Männer können mütterliche Eigenschaften entwickeln oder pflegen, aber wenn sie das zu sehr tun, werden sie weder von den Frauen, noch von den Männern als Männer wahrgenommen. Und sie können natürlich keine Kinder austragen und gebären. Das nimmt ihnen Einiges an Last und Verantwortung und auch an Gefahr, aber es enthält ihnen auch eine Erfahrung vor, deren Inhalt sie nicht einmal erahnen können, es sei denn, sie könnten Frauen und Mütter sensibel und einfühlsam beobachten und in solchen Phasen begleiten und unterstützen. Allerdings ist der Empathie auch dadurch eine Grenze gesetzt, dass Männern die Erfahrung der Mutterschaft fehlt. Wohl haben sie, wie jeder Mensch, eine Mutter, doch das kann die Empathie ebenfalls beeinträchtigen, manchmal vielleicht auch fördern.
Das macht deutlich, dass bei aller kultureller Überformung einige biologische Tatsachen nicht außer Acht gelassen werden können. Die menschliche Psyche entwickelt sich koevolutionär mit der menschlichen Biologie. Die kulturellen Aspekte fließen erst sekundär mit ein, denn sie sind sehr viel jünger und weniger tief gehend. Ausgehend von biologischen Verhaltensbeobachtungen und denen der wissenschaftlichen Psychologie einschließlich der davon ausgehenden Theoriebildung durch ihre analythischen und tiefenpsychologischen Vorläufer oder Ahnen geht man davon aus, dass menschliches und speziell väterliches und mütterliches Verhalten sich im Einklang mit den biologischen Notwendigkeiten zu "archetypischen" Grundhaltungen ausgeformt hat. Nach diesen Erkenntnissen gehört es zum "mütterlichen Archetyp", dass sich beginnend von der Schwangerschaftssymbiose bis zum Ende der Stillzeit ein schützend umsorgendes Verhalten ausbildet. Die Mütter wissen in dieser Zeit, wenn sie nicht durch besondere Umstände - z.B. kulturelle Faktoten wie die Arbeitswelt - daran gehindert werden, "instinktiv", was das Kind benötigt und sind darauf erpicht, diese sehr umfassende Zuwendung "hinreichend gut" (im Gegensatz zu "perfekt" nach Winnicot) zu Verfügung zu stellen: Nahrung, Schutz, Pflege, emotionale Versorgung.
Der dazu passende mütterliche Satz der tiefenpsychologischen Archetypbeschreibung als Botschaft an ein ihr willkommenes und von ihr angenommenes Kind von einer Mutter, die durch die biologischen und realen gesellschaftlichen Voraussetzungen in die Lage versetzt wird, all diese Ressourcen für das Kind zu mobilisieren, lautet etwa so: "Du bist mein geliebtes Kind; du kannst sein, wie du willst und tun, was du willst, du bist immer mein Kind, ich werde dich immer lieben und versorgen, du kannst immer bei mir bleiben". Natürlich erfordert die gesunde Entwicklung eines Kindes in die Individualität und die eigene Verantwortlichkeit sowie in den sozialen Raum seiner Gruppe, der Familie, Sippe, Gemeinde und Gesellschaft, dass die Mutter irgendwann deutlich entsprechend den Fähigkeiten des Kindes immer mehr loslässt und das Kind entlässt und nicht auf eine lebenslange Erfüllung einer Art Dankbarkeitspflicht in der Form besteht, dass das Kind immer bei der Mutter bleibt und diese schließlich versorgt und schützt.
Bei dieser Aufgabe würde dann in der biologisch-psychologischen Logik der Vater oder ein sozialer Vater helfen, der dann die soziale Nabelschnur zwischen Mutter und Kind durchtrennt und bei der Verselbstständigung hilft, was oft nicht ohne Bruch und Konflikt, der bewältigt werden muss, vonstatten geht. Hier sieht die Freudsche Psychoanalyse den Kern des so genannten Ödipus-Komplexes, wenn nämlich das Kind, statt vom unmündigen Infans, einem von der Mutter gepäppelten, beschützten und beengten Wesen zum gattenähnlichen Beschützer und Versorger der Mutter zu werden oder aber klein gehalten zu werden, vom Vater ausgebildet und nach und nach immer mehr und immer weiter weg in die Welt geschickt wird. Der zu dieser archetypischen Vateraufgabe gehörende Satz klänge dann etwa so: "Du bist mein geliebtes Kind und daher zeige ich Dir alles, was ich kann und was Du brauchst, um ein gutes und selbstbestimmtes Leben als Erwachsener zu führen und eigene Entscheidungen zu treffen. Und wenn ich sehe, dass Du auf eigenen Füßen stehen kannst, sage ich Dir, wann es Zeit ist, zu gehen und außerhalb Deiner Familie Dein Glück zu machen. Ich schicke Dich weg und wenn Du wiederkommen willst, dann wie ein Gast oder wenn Du meinen Rat benötigst."
Schon vor dem Patriarchat und natürlich auch mit diesem in den letzten ca. 7.000 Jahren setzte eine kulturelle Beeinflussung der Ausprägung oder Handhabung dieser biologischen und psychologischen Grundvoraussetzungen ein. Und doch konnten sie die Biologie bislang nicht außer Kraft setzen, nämlich dass Frauen Kinder empfangen, austragen und gebären, dass sie stillen und nähren, schützen und lieben, natürlich auf ihre eigene, individuelle Art und dass Väter ihnen bestimmte Fertigkeiten beibringen wollen (Mütter auch!), insbesondere wenn sie die Sprache gelernt haben, dass sie den Kindern ihre Welt zeigen, sie mitnehmen und anleiten wollen, dass sie oft sogar explizite Forderungen stellen und dass sie Kinder auch viel wegschicken, damit sie sich erproben und etwas leisten, auf das sie stolz sein können.
Die kulturellen Formen, die wir gefunden haben, repräsentieren die biologische Natur um so stärker, je mehr wir noch von der Natur unmittelbar abhängig sind und unsere Gesellschaften repräsentieren auf ein Großes projiziert die biologisch-psychologischen Urerfahrungen mit einer gewissen religiös-sozialen Tünche: Wir dachten uns unsere Götter als archetypische Mütter und Väter und verliehen unseren gesellschaftlichen Repräsentanten ähnliche Attribute, die sie zu Gottkönige und Gottköniginnen machte und noch heute haben einige Nationen trotz ihrer demokratischen Verfassungen oberste Repräsentanten, sozusagen ehrenhalber, die als konstitutionelle Monarchen von den Herrschermodellen stammen, mit denen ihre Vorgänger noch "von Gottes Gnaden" über ihre Untertanen geboten. Und manche religiöse Führer wie der Papst verstehen sich im spirituellen Bereich noch heute so.
Inzwischen haben die Industriegesellschaften die Massenproduktion von Gütern, die Nutzbarmachung der natürlichen Ressourcen der Erde bis zur Ausbeutung und die Geldwirtschaft und den Handel mit dem kapitalistischen Wachstumskonzept auf Kosten der endlichen Rohstoffe und der Arbeitskraft von Lohnabhängigen so perfektioniert, dass in unseren Breiten zumindest theoretisch eine viel größere Freiheit als in den agrarischen und frühindustriellen Gesellschaften davor bestünde, die nach wie vor gegebenen und wichtigen biologischen und psychologischen Notwendigkeiten von Mutter-, Vaterschaft und Kindheit anders zu organisieren, insbesondere, wenn wir noch freiere und gleichzeitig verantwortungsbewusste, rücksichtsvolle, mit sozialem Gewissen ausgestattete Menschen heranziehen und eine ebensolche Gesellschaft anstreben wollen und in einem notwendigen weiteren Schritt nicht nur die reichen, auf ungerechter Verteilung und Ausbeutung traditionellerer Gesellschaften basierenden Industriegesellschaften in diese Möglichkeit versetzen wollen, sondern alle Menschen auf der ganzen Welt.
Wenn wir den Institutionen einer Gesellschaft jedenfalls teilweise die Aufgabe übertragen, Kinder sicher, in Wohlstand und mit guter Bildung aufzuziehen, entbinden wir Väter und Mütter von der materiellen und persönlichen Not, dies alles unter Verzicht und Einbußen selbst herstellen zu müssen. Die gesellschaftlichen Institutionen, der so genannte Staat, kann dafür sorgen, dass der Wohlstand dem Nachwuchs und denen zur Verfügung steht, die sich um diesen kümmern. Mütter und Väter können so die Gelegenheit und das Vermögen erhalten, für die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder, für liebevolle Erziehung und beispielgebendes Lernen da zu sein, statt während der Aufzuchtphase ihrer Kinder in immer währender Konkurrenz im Arbeitskampf zu stehen und die Karriere voran zu treiben. Mütter können weiter oder wieder im Beruf arbeiten, wenn sie das wollen, Väter können ihre Berufstätigkeit zeitweise vermindern oder ruhen lassen, ohne dass ihre Rentenansprüche sich vermindern und sie den beruflichen Anschluss verlieren. Kinder verdanken dann nicht nur den Einzelleistungen oder dem Reichtum ihrer Eltern alles und stehen in unbegleichbarer Schuld, sondern danken dies einer klugen Gesellschaftsordnung, für die sie sich ihrerseits später weiter engagieren, die friedlichen und sozialen Möglichkeiten einer recht komfortablen und gesicherten Existenz.
Die Realität sieht sogar in unseren reichen Gesellschaften anders aus. Kinderreiche Familien stehen in der Regel sozial schlechter da. Kinder Haben und Erziehen bedeutet Einkommensverlust, Zeitverlust, ständiger Kampf mit Institutionen, Arbeitgebern und mehr oder weniger hilfsbereiten Familienmitgliedern, Kindergärten, Horten und Schulen. Soziale Anerkennung verspricht hierzulande am ehesten eine möglichst hohe Ausbildung am besten mit Abitur und Hochschulstudium, ein Spitzenjob und Attribute des Wohlstandes, die mit einem höheren Einkommen oder auf Pump beschafft werden müssen. Für allein erziehende Mütter und manchmal Väter gibt es Mitleid und Almosen, für Kinder des so genannten "Prekariats" aus Familien von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gibt es das niedrig berechnete Unterhaltsminimum. Seine Bedürftigkeit muss man umständlich mit beschämenden Prozeduren nachweisen und steht ständig unter dem Generalverdacht des Missbrauches und des Erschleichens von Sozialhilfe, weil einige das so machen.
Aber noch schlimmer sieht es in den Staaten der Weltgegenden aus, die wir seit der Kolonialzeit ausgebeutet und noch heute in Abhängigkeit gehalten haben, die wir früher "Dritte" und "Vierte Welt" nannten und ihre Länder "Entwicklungsländer". Inzwischen müssen diese Staaten für Rohstoffe, Industrie- und Agrargüter Weltmarktpreise zahlen wie jeder Andere in der globalisierten Welt, sie müssen die gleichen Zinsen für ihre überschuldeten Volkswirtschaften zahlen und Geld für ihre Militärausgaben wegen der Stellvertreter- und Armutskriege. Sie haben es viel schwerer, die Folgen von Naturkatastrophen zu überwinden, die durch die menschenbedingte und von den Industrienationen begonnene Umweltzerstörung eher noch schlimmer werden, besonders was Überschwemmungen und Dürren betrifft.
Weil diese Kosten nicht gesenkt werden können, ist die einzige Ressource, die die ärmeren Länder noch anbieten können, um etwas vom wirtschaftlichen Wachstum abzubekommen, die billige Arbeitskraft der verelendeten Menschen, die an den Gewinnen nicht teilhaben, da diese zu den korrupten und ausbeuterischen Eliten und an die Banken und multinationalen Konzerne der Industrienationen gehen und mittelbar auch zu uns. Damit T-Shirts für 5 bei Primark oder H&M in Deutschland verkauft werden können, müssen Näherinnen in Bangladesh mit giftigen Rohstoffen in unklimatisierten, einsturzgefährdeten Fabrikhallen, illegal aus schlechtem Material errichtet, ohne Arbeitsschutz, Brandschutz und Gesundheitsfürsorge für Ausbeuterlöhne hart arbeiten. Und wenn bei einem der häufigen Brände 300 junge Frauen, zum Teil noch Kinder, viele aber Mütter, verbrennen oder wie jetzt über 1000 unter den Trümmern einer eingestürzten Fabrik erschlagen werden, sind das ein paar Aufreger für unsere Zeitungsschlagzeilen, aber kein Anfang für eine andere, gerechte Politik.
Was bedeutet Muttertag für die erschlagenen Mütter aus Bangladesh, für die Waisenkinder, für die Schwerverletzten, die als Krüppel keine Arbeit und keinen Lohn bekommen, wenn sie es überleben? Geben wir 10 für das T-Shirt und zweigen 5 direkt an einen Fond für die Mütter ab, damit sie sich mit Mikrokrediten langsam aber sicher aus ihrer sozialen Misere befreien können? Unterstützen wir einen fairen Welthandel? Machen Auftraggeber für Textillieferungen an unsere Discounthändler echte Kontrollen, bleiben vor Ort, helfen tatsächlich, marode Fabriken zu sanieren und den Arbeitsschutz zu verbessern, bessere Löhne zu zahlen, Schulen für die Kinder zu bauen? Nein, warum sollten sie das tun? Sie verdienen ja an dem System und wir freuen uns über billigste Industrieprodukte, die nebenbei überall auf der Welt die eigenständige, heimische, traditionelle Kleiderherstellung kaputt gemacht haben.
Genauso verfahren wir mit der Landwirtschaft der agrarischen Länder. Multinationale Konzerne kaufen oder pachten Land, roden Urwälder. Sie bauen dort Palmöl, Eukalyptusholz, Zuckerrohr, Baumwolle, Tabak und Viehfutter für den europäischen, amerikanischen und chinesischen Verbraucher an. Traditionelle Bauern und Viehzüchter werden vertrieben, noch verbliebene Stammeskulturen ausgelöscht. Bauern bekommen keine reellen Preise mehr für ihre Güter, ebenso wenig Weber und Schneider, die mit dem Weltmarkt, z.B. der Billigtextilien, konkurrieren müssen. Ihr Land produziert Viehfutter für europäische Fleischesser, statt Nahrung für Afrikaner und Indonesier, oder Palmöl und Alkohol für Industrieanlagen und Motoren der Industriestaaten, während die kleineren Bauern und Händler kaum noch in der Lage sind, Benzin und Diesel für ihre Trecker, Fahrzeuge und Maschinen zu bezahlen, selbst wenn in ihrem Land Öl gefördert wird.
So kommt es zu Armut, zu Dürre, zu Landvertreibung, zu Kriegen und wir sehen die Mütter im Fernsehen mit ihren verhungernden Babys auf dem Arm in Flüchtlingslagern, die resignierten Alten, die auf der Erde sitzen, die Massengräber, die Kindersoldaten, die Soldateska und unsere hilflosen Eingreiftruppen gegen weltweiten Terrorismus. Aber täuschen wir uns nicht. Das Schicksal, das wir anderen immer noch bereiten in unserer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit, bereiten wir in wenigen Generationen auch unseren eigenen Gesellschaften. Müttertage werden es nicht verhindern. Schlechtes Gewissen wird es nicht verhindern. Entwicklungshilfe wird es nicht verhindern. Katastrophenschutz und weltweite Militäreinsätze werden es nicht verhindern.
Michael