DDR-Grenzöffnung vor 20 Jahren im Mittelpunkt weltweiter Feiern
Heute vor 20 Jahren löste eine vom SED-Politbüromitglied Schabowski auf einer Pressekonferenz vorzeitig ausgeplauderte ZK-Entscheidung, den DDR-Bürgern ab sofort Reisefreiheit auch im Sinne einer Ausreise aus der DDR ohne Rückkehr zu gewähren, einen Ansturm der DDR-Bürger auf die Grenzübergänge in der Berliner Mauer aus. Die Grenzwächter behielten die Nerven und öffneten die Übergänge, obwohl es keine Anweisungen "von oben" gab. Tausende strömten in den Westteil Berlins und kletterten auf Mauer und Sperrwerke und feierten eine spontane Verbrüderungsparty, bevor die meisten DDR-Bürger wieder zurück in ihre Wohnungen nach Ostberlin gingen. Die alte DDR hatte ihren Gefängnischarakter verloren und das Ende der SED-Diktatur, schon seit Monaten auf Rückzugsgefechten vor einer immer stärker und mutiger werdenden Protestbewegung, war absehbar. Am Folgetag wiederholten sich die Szenen auch an anderen Grenzübergängen DDR-weit. Heute sind die Erinnerungen an diese Szenen vor 20 Jahren Anlass für weltweite Feierlichkeiten. Der so genannte Fall der Berliner Mauer hätte schließlich den Anfang vom Ende des Kalten Krieges markiert. Eine systemischer Internetseite, "systemagazin", erbat von ihren Lesern Zuschriften über ihre Erinnerungen an diese Zeit und das war auch für mich ein Anlass, nachzudenken, was ich von damals noch behalten habe und vor allem, in welchem gesellschaftlichen und politischen Umfeld sich diese Ereignisse, die heute Anlass des Jubiläums sind, abspielten.
Der Druck der Ausreisewilligen, die die DDR verlassen wollten, brachten die scharf bewachten Grenzen ins Wanken
Die durch Volksmassen erzwungene Öffnung und die in der Folgezeit neu errichteten Grenzübergänge für den einfacheren Grenzübertritt erlaubte zunächst nur den DDR-Bürgern den zunehmend weniger bürokratischen Besuch im Westen sowie auch die dauerhafte Ausreise, während für Westdeutsche Visumspflicht und Zwangsumtausch bis zum 24.12.1989 galten. Die Grenze wurde erst mit der Währungsunion zwischen BRD und DDR nach der Volkskammerwahl am 1.7.1990 de facto bedeutungslos und dann auf gelassen und nicht mehr bewacht. Kurz zuvor hatte an vielen Stellen in Berlin der eigentliche Mauerabriss begonnen, nachdem so genannte "Mauerspechte" das Betonmonstrum schon an vielen Stellen wie einen Schweizer Käse durchlöchert und mit Bildern besprüht hatten. Am Beginn der Entwicklung, die zum ersten Ansturm auf die Berliner Mauer durch DDR-Bürger führte, stand die zunehmende Unzufriedenheit der ostdeutschen Bevölkerung, die sich zuletzt mit Massenfluchten über Botschaften und Landesgrenzen der osteuropäischen Nachbarstaaten des Warschauer Paktes Polen, Tschechoslowakei und Ungarn ein Ventil suchte, während unverdrossen reformwillige Bürgerrechtler noch in der ausblutenden, wirtschaftlich annähernd bankrotten DDR ausharrten.
Die Veränderungen lagen mit knisternder Spannung bereits in der Luft
Ich erlebte diese bewegenden Bilder der Eroberung der Sperrwerke durch jubelnde und rebellierende Bürger weit entfernt am Fernsehschirm in Konstanz. Damals gehörte zu meinen politischen Beschäftigungen neben dem Verfassen von irgendwelchen Artikeln das ständige Hören und Sehen von Nachrichten und politischen Sendungen. Insofern war ich über die zunehmende Protestbewegung in der DDR und auch über die Massendemonstrationen am 4.11.89 besonders in Berlin mit ca. 1 Million Menschen gut informiert. Es lag knisternde Spannung und der Geruch von Veränderung, aber auch Brandgeruch in der Luft. Es gab auch Ängste vor unkontrollierbaren Reaktionen der in die Enge getriebenen Machthaber in den Militärblöcken. Die Alliierten, die aufgrund der traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges an Deutschlands Teilung festhielten und die beiden deutschen Teilstaaten ideologisch gegeneinander aufbrachten, sodass der eskalierende kalte Krieg in einem heißen Atomkonflikt zuerst Deutschland mit der Mitte Europas ausgelöscht hätte, mussten nun angesichts der Bürgerproteste und des deutschen Wiedervereinigungswillens rasch handeln, um noch Übersicht und Kontrolle zu behalten.
Was uns Friedensbewegte im Westen gut zehn Jahre vor dem Mauerfall bedrückte: Die Angst vor dem atomaren Inferno
Ich selbst war damals schon viel gelassener, immerhin 29. Gut zehn Jahre zuvor lebte ich mit einem ungleich beklommeneren Lebensgefühl. Damals machten wir junge Friedensbewegte uns bewusst, dass eine Nervosität, eine menschliche Fehlinterpretation oder ein Computerfehler in der Lage sein könnte, zu jeder Zeit einen atomaren Erstschlag und unmittelbar darauf den Vergeltungsschlag zwischen den westlichen und östlichen Militärblöcken der USA und UDSSR auszulösen mit dem Effekt, die Zivilisation auszulöschen. Nato und Warschauer Pakt standen sich hochgerüstet und unter feindselig-misstrauischer Anspannung jeden Schritt des Anderen beobachtend kriegsbereit gegenüber. Die konservativen Falken auf beiden Seiten trauten dem Gegner das Schlimmste zu, wir auch den Eigenen das Dümmste. In dieser gefühlsmäßig bleiernen Atmosphäre lebten wir in trotziger Angst und beschworen die Mächtigen, zur Vernunft zu kommen. Doch die Russen in Afghanistan und die Amerikaner mit ihren Nato-Doppelnachrüstungsbeschluss, den ausgerechnet Helmut Schmidt, der SPD-Kanzler, in Deutschland umsetzte schienen uns der Gipfel der Unvernunft zu sein. Zwanzig Jahre später dürfen wir die Hände noch nicht in den Schoßlegen. Es warten weitere riesige Arsenale an Massenvernichtungswaffen der ehemaligen kalten Krieger auf neue Abrüstungsbemühungen!
1989 ein vibrierendes Gefühl: War es die Ahnung über die aufkommende Freiheit oder nur Rührung über die bewegten Massen?
1989 dagegen spürte ich zwar auch ein vibrierendes Kribbeln bei der Betrachtung der politischen Großwetterlage, aber neben Befürchtungen mischten sich die Hoffnungen auf einen Neubeginn und auf die historische Chance zu einer Versöhnung der alten Feinde nach dem zweiten Weltkrieg. Gorbatschow machte mir persönlich dabei sehr viel mehr Hoffnung, als Honecker, Kohl, Bush und sogar Mitterand. Ich dachte manchmal darüber nach, wie es wohl die DDR-Opposition nach Jahrzehnten eines verborgenen und dennoch reichlich bespitzelten Schattendaseins erging und was die Friedensaktivisten der Kirche empfanden, als große Teile des Volkes für Freiheit und Einheit zu marschieren begannen. Waren Sie auch voller kribbelnder Hoffnung und Neugier mit ein wenig Sorge und Angst? Oder dachten sie, dass "schnöde materielle" Beweggründe die Bürger des "Arbeiter- und Bauernstaates" in Richtung Westen lockten? Damals gab es noch nicht die Interviews mit den Bürgerrechtsaktivisten und friedensbewegten Oppositionellen der DDR, die uns Wessis deren inneren und äußeren Erfahrungen im Kampf mit der allgegenwärtigen Tyrannei und deren Verlogenheit nahe brachten. Die gab es erst vermehrt nach der Gründung des runden Tisches und der Ablösung der letzten SED-Herrscher sowie nach dem Sturm auf die Stasizentralen durch aufgebrachte Bürger, die ihre Akten sehen wollten.
Respekt für die Dulder und Dissidenten der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR
Für die frühen DDR-Dissidenten, die diese Entwicklung einer allgemeinen, von großen Bevölkerungsschichten getragenen Umwälzung des Systems einer Einparteiendiktatur vielleicht jahrelang erhofft, aber auch nicht so vorausgesehen haben, empfand ich Respekt und Bewunderung. Ob kirchlich, humanistisch oder sogar kommunistisch inspiriert, prangerten sie auf ihre Weise trotz ständiger Unterdrückung durch die "Stasi" den faschistoiden, stalinistischen Polizeistaat der SED-Diktatur an und machten sich dennoch für eine demokratische und solidarische Gesellschaft in der DDR stark. Sie nahmen Gefängnis, Diskriminierung, Relegation, Berufverbot und sogar Ausbürgerung in Kauf. Sie wehrten sich bei einigermaßen Bekanntheit auch öffentlichwirksam wie Wolf Biermann sowohl gegen Auftritts- und Berufsverbote als auch gegen den Rausschmiss, die erzwungene Ausbürgerung. Sie übernahmen in großer Zahl nach den Ereignissen vom 4. und 9.11.1989 Verantwortung für eine geordnete, demokratische Machtübergabe von der verrotteten SED in die Hände gewählter, integrer Repräsentanten der Bürgerrechtsbewegung, in der sich allerdings auch zahlreiche "Wendehälse" versteckten. Freundlicher ausgedrückt könnte man sagen, dass die Bürgerproteste eine solche Dynamik bekamen, dass auch die einfachen Mitläufer des SED-Systems rasch überzeugt waren und nach der Freiheit griffen, während die alten Widerständler und Oppositionellen wussten, welches Leid die demokratische Untergrundarbeit in einer Diktatur für freiheitsliebende Menschen bedeuten konnte und auch welche Verantwortung für eine revolutionäre Umwälzung angesichts agitierter und elektrisierter Massen zu übernehmen ist.
Friedensmarschierer im Westen wurden zwar für dumm oder verrückt gehalten, hatten es aber leichter als im Osten
Selbst in der Umweltschutz- und Friedensbewegung seit der Jugend über ein Jahrzehnt aktiv, war mir klar, dass die Protestbewegung unserer westdeutschen Jugend trotz Staatsschutzbespitzelung, Terrorismushysterie und Berufsverboten gegen linksorientierte Lehrer und Intellektuelle während der Antiatomkraftaktionen und Friedensdemonstrationen in den Siebziger und Achtziger Jahren niemals die Risiken auf sich nehmen musste, die DDR-Oppositionelle zu tragen hatten. Außerdem gab es in der BRD schon die Erfahrung der Antivietnamkriegsdemonstrationen (bis 1975) und der Studentenprotest 1967 und 1968, an deren Ende die erste sozial-liberale Regierung in der BRD mit Willy Brand an der Spitze stand. Dennoch: wir waren zwar dagegen, unsere Ostdeutschen Landsleute mit einer waffenstarrenden Bundeswehr und alliierten Atomwaffen zu bedrohen, waren aber auch misstrauisch über das friedensbewegte Potential im Osten, hielten es für zu klein und zu ohnmächtig und misstrauten dem ostdeutschen Volk, ob es uns friedensbewegte Wehrdienstverweigerer nicht in ideologischer Verblendung, wie uns die westdeutsche kapitalistische Springerpropaganda weiß machen wollte, als nützliche Idioten für die kalten Ostkrieger ansehen würden, die lieber rot als tot wären, wenn es mal zum show down des dritten Weltkrieges käme. Wir galten als weltfremde Pazifisten oder gar Vaterlandsverräter, obwohl uns Deutschen klar war, dass das mit dem Vaterland so eine Sache war: Warum sollten Deutsche auf Deutsche schießen, weil die Folgen des zweiten Weltkrieges für eine ideologisch verbrämte Teilung der Einflusssphären zweier atomarer Supermächte gesorgt haben?
Wir wollten für niemanden nützliche Idioten sein, sondern hatten ein Ziel: Abrüstung, Weltfrieden, Gerechtigkeit, Einigung, Freiheit, Umweltschutz. Einige hofften auf eine neue Einigungsverfassung
Daher waren die meisten von uns sehr bemüht, sich von den westdeutschen K-Gruppen abzugrenzen, verschrobene Marxisten, Leninisten, sogar Stalinisten, Trotzkisten und Maoisten - die ganze bunte Bandbreite hemmungsloser machtpolitischer Revolutionsutopisten -, die auch den Ökologen und Friedensbewegten immer noch als fünfte Kolonne Moskaus vorkam. Wir wollten uns nicht instrumentalisieren lassen, von keiner ideologischen Front. Bei der Dekonstruktion ost-westlicher Feindbilder glaubten wir allerdings auch nicht jede Westpropaganda über die DDR und die Sowjetunion und registrierten sehr wohl, dass namhafte Ostdissidenten unter den Künstlern und Schriftstellern und sogar Wissenschaftlern für eine solidarische, ja sozialistische Gesellschaft eine Lanze brachen und die materialistische Orientierung des Kapitalismus ablehnten, aber eben gleichzeitig Freiheit und Demokratie forderten, eigentlich selbstverständlich für Kommunisten und Sozialisten, die radikal und konsequent dachten. Daher konnte für mich die Lösung der Wiedervereinigung auch nicht sein, dass der große, kapitalstarke Westnachbar den Ostnachbarn einfach schluckte und zwangsbeglückte und den DDR-Bürgern lediglich leicht verzögert und in abgespeckter Form mehr materiellen Wohlstand, notfalls durch die Stütze bei zusammenbrechender Produktion, verhieß, bei Wegfall der alten Stasi aber auch jeder ostdeutschen Identität. Auch die relativ selbstbewussten und seit Jahrzehnten in der Produktion stehenden Ossi-Frauen sollten freigesetzt in die Arbeitslosigkeit nun wieder zurück ins Glied. Ich hoffte mit Einigen auf eine neu ausgearbeitete gesamtdeutsche Verfassung. Aber der Vereinigungswille, den die Politiker beim Volk diagnostizierten, war ungeduldiger und forderte anscheinend die rasche Beitrittsversion der DDR zur BRD statt einer Vereinigung auf Augenhöhe.
Ergriffenheit, Berührtheit, Erleichterung, Reisefreude
Zunächst aber machte sich in allen Bevölkerungsschichten seit dem 9.11.1989 in Ost und West Erleichterung breit. Eine Massenbewegung erzwang das Zurückweichen der militärischen Unterdrückungsorgane eines totalitären preußischen Staates, ohne dass ein Schuss gefallen war. Ich war über die Bilder sehr bewegt und reiste zur Jahreswende nach Berlin, um von der Reisefreiheit auch in umgekehrter Richtung zu profitieren. Es war meine zweite Reise in die Hauptstadt der DDR. Die erste absolvierte ich als Schüler zehn Jahre zuvor, dann nach dem Mauerfall. Die nächste Reise ging dann schon in die "Neuen Bundesländer" und heute empfinde ich es als völlig normal, durch den Osten Deutschlands zu reisen und den Leuten dort zu begegnen. Ich hätte auch keine Bedenken, im Osten zu leben. Damals war alles neu für mich in der alten, grauen Noch-DDR. Die ruinösen tristen Häuser in vielen Berliner Vierteln und die niedlichen Autos, die mich als Oldtimer- und Technik-Liebhaber faszinierten, weckten meine Neugier und meine Phantasie: Wie haben die Menschen hier wirklich gelebt in muffigen "real existierenden Sozialismus"? Ich empfand damals die Beendigung des Konfrontationskurses zwischen dem westlichen und östlichen Militärblock während des "Kalten Krieges" trotz aller Überraschung über den glatten Verlauf als eine natürliche Entwicklung, an der die Menschen, die Bürger in den einzelnen Staaten mehr maßgeblich beteiligt waren, obwohl ihnen das selten bewusst wurde, als die so genannten Handelnden der Geschichte, die politischen Repräsentanten und Entscheidungsträger. Es dauerte allerdings einige Zeit, bis ich als "Wessi" tatsächlich einige "Ossis" wirklich kennen lernte, nachdem ich zuvor schon einige "Republikflüchtlinge" kannte.
Als Pazifisten Erben der Studentenrevolte und der späten Blüte bundesdeutscher Sozialdemokratie
Ich wuchs in einer liberalen, sozial und humanistisch ausgerichteten katholischen Familie auf, in der vor allem der Vater der Sozialdemokratie und besonders Willy Brandt zuneigte, was auf mich abfärbte, obwohl ich als Jugendlicher persönlich mit radikaleren, revolutionären und anarchistischen Idealen sympathisierte. Die Macht war mir immer suspekt. Die Generation meiner Eltern war zu alt für die 68er Protestbewegung der Studenten und ich war zu jung, um mit zu machen. Ich war nur als Kind erstaunt und irgendwie fasziniert von dem, was ich hörte und im Fernsehen sah. In gewisser Weise gehörte ich allerdings zu den unmittelbaren Erben dieser Bewegung und vor dem Nato-Doppelrüstungsbeschluss unter Helmut Schmidt (SPD) und Hans-Dietrich Genscher (FDP) und deren Verwässerung der bürgerlichen Freiheitsrechte wegen des RAF-Terrorismus auch zu den Sympathisanten der Sozialdemokratie unter Willy Brandt, der mit seiner Ostpolitik uns Junge inspirierte. In sofern hatte ich schon einen anderen Blick auf den Osten und die DDR, ohne die stalinistischen Systeme zu schätzen. Ich sympathisierte mit dem Prager Frühling und später mit der polnischen Solidarnosc und den ostdeutschen Bürgerrechtlern, als ich der westdeutschen Friedens- und Ökologiebewegung beitrat. Schwerter zu Pflugscharen war auch unser Modell, wenn auch weniger christlich wie bei den ostdeutschen Pastoren. Es prägte meine politisches Engagement in der Gemeinde, Schule, Schülerzeitung, Stadtzeitung und in der Studentenfachschaft. Das konservative Establishment der BRD einschließlich der rechten Sozialdemokraten und der sie beerbenden Kohl-Regierung der CDU/CSU-FDP hielt uns für bescheuert naiv und behauptete, dass nur massive Aufrüstungen und atomare Drohungen den Warschauer Pakt mit der führenden Sowjetunion in Schach halten würde. Doch die zog mit und die Aufrüstungsspirale wurde weiter angeheizt. Der Mauerfall schien plötzlich allen Recht zu geben. Wir Pazifisten nahmen für uns in Anspruch, das Gorbatschow und die Sowjets an die friedfertigen Absichten des Deutschen Volkes glaubten und uns vertrauten. Die Kalten Krieger und Falken argumentierten, man habe der Bedrohung durch den Osten militärisch Stand gehalten und der stärkere Kapitalismus habe die Wirtschaftskraft des Kommunismus durch das Wettrüsten ausgehöhlt. Die Völker des Ostens wollten, so deren Argument, zur Marktfreiheit des Kapitalismus übergehen.
Betonpolitik im Westen und Innovation im Osten: Gorbatschows Ideen bewegen Freund und Feind
Von allen damaligen Politikern waren aus unserer skeptischen Protestler-Sicht aus dem Westen in Frankreich, England, USA und bei uns nichts an innovativen Beiträgen zur Beendigung dieses Dilemmas einer waffenstarrenden machtpolitischen gegenseitigen Blockade inmitten gärender Veränderungen mündig werdender Völker zu erwarten. Ein Helmut Kohl, der zwar sehr machtbewusst und notfalls intrigant war, aber auch jemand, der alle Probleme und jede Veränderung stoisch aussaß und dann erst auf Innovationen zum Machterhalt reagierte, konnte kein Motor der Geschichte sein. Ich hoffte nur, dass er durch seine Behäbigkeit nicht alles versaute. Doch erwies er sich durch seine Behäbigkeit vielleicht als der richtige Partner für einen charismatischen weltpolitischen Führer und Veränderer, der sich gleichwohl nur kurz auf der Weltbühne der Macht befand, um rebellierende Gesamtstimmung in den osteuropäischen Staaten richtig einzuschätzen und zu kanalisieren, bevor es zu einer unkontrollierten Kettenreaktion kam. Auch er folgte gewissermaßen den Strömungen der Völker, jedoch anders als Kohl und Bush sehr aktiv: Es war Michail Gorbatschow, der Erfinder von Glasnost und Perestroika, der die Geschicke der UDSSR von 1985 bis 1991 zunächst als Generalsekretär des ZK der KPDSU und dann als Präsident der SU lenkte, bevor er von seinen weniger begabten, weniger demokratischen und weniger integren Nachfolgern Boris Jelzin und Wladimir Putin beerbt wurde. Die britische Premierministerin Thatcher empfahl US-Präsident Reagan jedoch den Umgang mit diesem ungewöhnlichen Gorbatschow, der ein netter Kerl sein soll, so die eiserne Lady, mit dem man gut Geschäfte machen könne.
Wir Deutsche verpassten die Neutralität und blieben in der Nato - Gorbatschow schluckte die Kröte und bewies Mut und Zuversicht
Gorbatschow hatte sich am meisten bewegt. Die Westmächte der Alliierten, vor allem die Amerikaner, waren unter dem Reagan-Nachfolger Bush nicht bereit, ein vereinigtes Deutschland aus dem Nato-Block zu entlassen. Hier gelang es offenbar den beiden beharrlichen Schwergewichten Kohl und Gentscher, Gorbatschows Vertrauen in die friedlichen Absichten der Bundesdeutschen Politik so weit zu stärken, dass er einem vereinigten Deutschland die vollständige Souveränität auch über die Bündnisfrage zubilligte und im Gegenzug u. a. nur den ehrenvollen und finanzierten Abzug der Roten Armee aus der Ex-DDR verlangte. Vielleicht vertraute Gorbatschow auch auf viele Millionen antifaschistische und friedensbewegte Deutsche. Leider ergriff die BRD unter Kohl nicht die Chance, ein neutraler, blockfreier Staat ohne Nato-Mitgliedschaft zu werden, wie etwa die Schweiz, sondern erfreute die Amerikaner mit dem Verbleib in der Nato, was wegen vieler ehemaliger Ostblockstaaten, die diesem Beispiel folgten, für Russland heute durchaus ein Problem ist, da sich das wirtschaftlich und militärisch zeitweise destabilisierte Riesenreich von seinen ehemaligen Bundesgenossen und jetzigen oder künftigen Nato-Mitgliedern nach dem Ende des Warschauerpaktes bedroht fühlte. Zu Gorbatschows Zeiten hatte die Sowjetunion in ihrem Freiheitsrausch und großem Aufbruch zu mehr Demokratie ein gutes Selbstbewusstsein und ließ sich von der Nato nicht verunsichern.
Zwanzig Jahre nach der Grenzöffnung ist die Wiedervereinigung in den meisten Köpfen Normalität
Zwanzig Jahre nach dem "Mauerfall" und neunzehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sind Ost und West sich näher gekommen und für meine Kinder ist ein vereinigtes Deutschland eine Normalität. Mit großen Augen hören sie von der Zeit vor Beendigung des Kalten Krieges und vom Zweiten Weltkrieg und staunend, aber auch entsetzt durchwanderten sie das Berliner Museum am Checkpoint Charly in Berlin. Was meine Generation empfand, als die Menschenmassen in ihrem Ruf nach Freiheit und Ende der SED-Herrschaft nach monatelang immer stärker anschwellenden Protesten friedlich unter zum Teil hohem Risiko die Politiker zum Handeln zwangen, werden viele heute nicht nachempfinden können. Und wenn auch heute noch einige wenige ehemalige West- und Ostdeutsche eine Umkehr der Geschichte wünschen, so hat dies möglicherweise mit einigen enttäuschten Hoffnungen und Demütigungen zu tun, aber wohl kaum damit, dass sich jemand ernsthaft Stasidiktatur, SED-Unrecht, Todesstreifen und Propagandaschlachten auf beiden Seiten zurück wünscht oder gar den Kalten Krieg. Und doch ist nicht alles fair und gerecht zugegangen und manche warten noch auf Anerkennung ihrer Leistungen und ihrer Leiden. Dennoch bleibt einem wenig anderes übrig, als im Bewusstsein der Vergangenheit weiter in die Gegenwart zu schauen.
Wir dürfen die Solidarität nicht vergessen, die den Kampf für die Freiheit möglich gemacht hat. Eine unsolidarische Gesellschaft ist kalt und lieblos
Die Wirtschaft wurde effektiver und sauberer, zum Teil aber im Osten auch ausverkauft und liquidiert. Doch die soziale Komponente unserer westdeutschen Marktwirtschaft und unsere Liberalität haben heute unter der Krise des Kapitalismus und unter der Antwort internationaler Terroristen auf neue imperiale Kriege um Ressourcen gelitten. Wir sind weniger sozial, weniger sicher, weniger freiheitlich, weniger demokratisch - nach meiner Meinung. Und wir sind nicht so nachhaltig und ökologisch orientiert, dass wir uns schon sicher sein können, unsere Welt vor den Folgen unserer rücksichtslosen Ausbeuterwirtschaft zu bewahren. Es gibt wieder mehr Ängste in der gesamtdeutschen Bevölkerung als etwa bei den Montagsdemonstranten in Leipzig, die erst für Freiheit ("Wir sind das Volk!") und dann für die Wiedervereinigung ("Wir sind ein Volk!") protestierten. Doch wenn es Ängste gibt, kann ich den Ängstlichen nur zurufen, sich solidarisch zusammen zu schließen, statt sich vereinzeln und dann einmachen zu lassen! Wir sollten auch von den DDR-Bürgern gelernt haben, obwohl sie sich in der Masse lange nicht getraut haben: Hat man einmal erkannt, worum es geht, macht das Maul auf und tretet füreinander ein! Auch im "goldenen Westen" ist längst nicht alles gut und gilt es weiter, etwas zu bewegen.
Michael