Die religiös verankerten Lehren über ein gutes Zusammenleben aller Mitmenschen eines Siedlungsbereiches sind keine biologisch-evolutionäre Entwicklung, sondern eine psychologische und spirituelle Kulturleistung. Unter der Vorstellung einer guten, verlässlichen, persönlichen Gottesbeziehung entwickelten Menschen vor Tausenden Jahren Ideen über eine gute Beziehung zur eigenen Innenwelt und zu mitmenschlichen und kreatürlichen Außenwelt. Eine Version dieser "gottgewollten" Ordnung für ein friedvolles und gerechtes Zusammenleben in einer Gemeinschaft waren die "Zehn Gebote" des Volkes Israel, wie sie in den Büchern Mose (Exodus) der Thora bzw. des Alten Testamentes überliefert sind. Dort heißt es dann zum Ersten Gebot in Ex 20,5f: „Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.“ In ähnlicher Weise kommt die Bibel auf diese Aussage in späteren Büchern immer wieder zurück: Im Buch Exodus, Kapitel 34, im Buch Numeri, Kapitel 14, im Buch Deuteronomium, Kapitel 5, im Buch Genesis, Kapitel 15. Jesus, der ein grundgütiges, barmherziges, väterliches Gottesbild vermittelt, belässt die vorherigen göttlichen Aussagen in ihrer ganzen Gültigkeit, Buchstaben für Buchstaben wie im Evangelium des Matthäus 5,17f: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.“
Was bedeutet dies nun für heutige Menschen mit ihrer zivilisatorischen Entwicklung, ihren Fortschritten in der Psychologie, der Philosophie, der Ethik, mit ihren aufgeklärten Theologien? Während neue Fundamentalisten ein Interesse daran haben, Gottes Strafcharakter hervorzuheben und nicht müde werden, auszumalen, wie er die Sünder und deren Nachkommen strafen wird, möchten manche Aufklärer die furchtbar klingenden Sätze negieren. Es gäbe aber durchaus einen Weg, mit den heutigen Erkenntnissen aus Philosophie, Psychologie und Theologie zeitgemäße Antworten auf sehr alte Wahrheiten zu finden, die die Menschen an den Wurzeln unserer zivilisatorischen Kulturen wohl richtig gespürt und in klaren Worten aufgrund überprüfter Erfahrungen nach Jahrhunderten und Jahrtausenden in heiligen Lehren niedergeschrieben haben, damit sie nicht von Generation von Generation wieder vergessen werden können und sich in den Völkern und Religionsgemeinschaften so etwas wie ein kollektives Gewissen ausbilden konnte, das eben zunächst nicht auf biologischen, genetisch vererbbaren Grundlagen beruht, sondern auf kulturellen Erfahrungen und Einsichten in das kollektive Unbewusste wie das göttlich-spirituelle Überbewusste.
Das Primatengehirn, dass sich in der menschlichen Spezies zu einer höchst eindrucksvollen und unfassbar komplizierten Entwicklung vervollkommnete, ist dennoch nach wie vor so einfach in erster Linie mit dem bloßen Überleben in biologischer Hinsicht beschäftigt, dass es keine nachhaltigen Strukturen für ein ausreichendes geschichtliches und kulturelles Gedächtnis entwickelte. Schon so genannte Zeitzeugen haben mit den "Tücken" ihres rein biologischen Gedächtnisses, das höchst lebendig, das heißt veränderlich, unstet und sterblich ist, zu tun: sie vergessen, sie vermischen Erinnerungen und komponieren sie neu, sie erschaffen neues Wissen aus anderen Erfahrungen und behalten keine nackten geschichtlichen Tatsachen in Erinnerung, sondern emotional gefärbte Geschichten, die sich mit der eigenen Biografie und der immer neuen Suche nach Sinn und Bedeutung deutend umfärben. Biologisch macht die Fähigkeit zum Vergessen und Informationen und Geschichten, die wie Ballast wirken können, Sinn, psychologisch übrigens auch. Was dem immerhin schon relativ weit entwickelten Gewissen des Menschen, seiner Fähigkeit zu Empathie, durch überwältigende, von einem Individuum oder sogar einer Gruppe nicht zu verarbeitende und zu integrierende Ereignisse lebensbedrohlichen, ja katastrophalen Ausmaßes nicht mehr auszuhalten und in einer sinnvollen Geschichte zu gießen möglich ist, wird psychologisch verdrängt oder gar abgespalten und so individuell und auch kollektiv vergessen.
Bliebe es aber bei diesen neuronalen und psychologischen Notfallreaktionen auf der Basis eines eher biologisch organisierten Gedächtnisses, bliebe unsere Kultur auf der Stufe von Primaten, könnten wir eine höhere kulturelle Weiterentwicklung hin zu einer Organisation eines gerechten und mitfühlenden menschlichen Zusammenlebens in größeren Gemeinschaften als einer Kernfamilie oder kleinen Urhorde vergessen, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir müssen uns also schon an die Mächte der Seele tief in uns und des Geistes hoch über uns anschließend und Mittel finden, die daraus wachsenden Erkenntnisse mitzuteilen und miteinander zu teilen, um eine höher stehende Ethik, eine humanistische Philosophie und eine Religion des Mitgefühls und der Nächstenliebe zu entwickeln. Und dabei geht es nicht nur darum, Visionen positiver Utopien zu verkünden. Wir müssen in unseren Tiefen genauso die Höllenfahrten zu unseren düsteren Gefühlen, zu unseren Ängsten, zu Trauer und Schmerz, zu Wut und Hass unternehmen, um uns individuell und die aus uns Individuen zusammen gestellten Gesellschaften genauer kennen zu lernen und der Fratze des eigenen inneren Dämons, den wir gerne nach außen treiben, am liebsten aus dem anderen heraus, ins Gesicht sehen. Das können wir nicht mit einem biologischen Gedächtnis. Das können wir nur, indem wir ein kulturelles und geschichtliches kollektives Gedächtnis entwickeln und in tradierbaren und nicht nur mit unserem biologischen "Kurzzeitverstand" verstehbaren Mythen und Ritualen lebendig, wirksam und reaktionsfähig erhalten. Allerdings müssen wir in einer Art Einweihung persönlich in diese Mysterien eintauchen, um uns zu immunisieren und dem eigenen "Bösen" in uns einen ungefährlichen Platz zu geben, wo wir es nicht im Außen befriedigen müssen, sondern im Inneren zum Frieden bringen können.
Für die Gläubigen in einer Religion, in der gilt, dass das Göttliche nicht nur transzendent und fern ist, sondern auch in jedem Menschen, ist es vermutlich eher möglich, eine unmittelbare persönliche, innere Wechselwirkung zu spüren oder darum zu wissen, wie sie mit anderen Worten auch die Psychologie beschreiben könnte. Und die Erfahrungen dieser transzendental oder auch psychologisch Erfahrenen kann über die Generationen schon sehr zuverlässig aussagen - und das offenbar seit Jahrtausenden - dass schwere Verfehlungen gegen göttliche, das heißt ethische Grundprinzipien nicht auf en einen Menschen beschränkt bleiben können, der unmittelbar fehlte. Die Auswirkungen beziehen tatsächlich ganze Familien und Gruppen mit ein, Partner, Eltern, Kinder, Enkel und Urenkel - mindesten drei bis vier Generationen in die Tiefe aber auch in die Breite des Umfeldes. Wenn sich sogar ganze Gemeinschaften kollektiv einem bösen Wahn ergeben und das Böse in andern, in Mitmenschen, auch in Fremden oder in fremden Völkern sehen und mörderisch bekämpfen, werden alle Beteiligten und die nachfolgenden Generationen von dem tödlichen Gift des Hasses und der Bitterkeit von Zorn, Rache und endloser Trauer sowie unterdrücktem Schmerz vergiftet. Wir wissen inzwischen, dass Kriege und Verfolgung nicht direkt betoffene Kinder, Enkel und sogar Urenkel erreichen und verstören. Wir wissen, dass der organisierte Judenmord im so genannten Holocaust im Nationalsozialismus furchtbare Folgen auch für die Nachkommen der Opfer wie der Täter hatte.
Für die Lösung der Folgen solcher massenhaften kulturellen Verfehlungen ist im Einzelnen wie kollektiv eine gewaltige Sühneleistung notwendig. Der schwerste Schritt ist, die Wucht des Leides bei sich selbst bewusst ankommen zu lassen, Stück für Stück, soviel wir gerade zu nehmen in der Lage sind, und auch noch Generationen nach den eigentlichen Tätern und Opfern menschlich-ethische Verantwortung zu übernehmen: vor allem auch für uns selbst, das eigene Böse, die eigene Ängstlichkeit und Mutlosigkeit, die eigene Unklarheit, die eigene Unbarmherzigkeit und Kälte. Das ist höllisch schwer, weil es ängstigt, brennt, schmerzt, Traurigkeit auslöst. Diese Reue ist aber die Voraussetzung für die Sühnearbeit, die nichts anderes ist, als seinem Herzen und anderen Herzen Frieden zu bringen. In diese Sühne mischt sich dann die Barmherzigkeit des tiefsten inneren göttlichen Funkens, der belebt wird von dem großen Feuer der Reinigung. Das ist dann die Gnade. Und wenn wir es schaffen, uns in diesen Prozess zu begeben, können wir den Schmerz, an denen nach unserer eigener Erfahrung und nicht nur nach dem göttlichen Wort in der Bibel drei bis vier Generationen zu leiden und zu büßen haben, ohne bewusst zur Buße zu kommen, in etwas anderes umwandeln, in eine Zeit der Gnade, Barmherzigkeit und Nächstenliebe für viele Generationen, für Tausende, am liebsten für alle Zeiten. Das ist die eigentliche göttliche Botschaft.
Aber um diese Kultur der Liebe und des Friedens, das Reich Gottes zu errichten, müssen wir den erleuchteten Vorgängern, die schon wahre "Kinder Gottes" geworden sind, eben auch in den individuellen und kollektiven Schmerz folgen, denn nur mit unserem biologischen Gedächtnis und einer am biologischen Überleben ausgerichteten Psyche würden wir immer zu wenig tief graben und nie über unsere Denkschranken hinausgelangen, sondern nur unentwegt projizieren. Deshalb sind die drastischen Worte so nötig, um uns existentiell aufzurütteln, wach zu machen. Unsere Schläfrigkeit, unser Selbstbetrug macht uns im psychoanalytischen Sinne unfähig, zu trauern, wie es Mitscherlich Nachkriegsdeutschland unmittelbar nach der Aufdeckung der kollektiven Gräueltaten an Juden, Sinti, Roma, Slawen und Andersdenkenden in Nazideutschland attestierte. Die Unfähigkeit zu Mitgefühl, zu Schmerzempfindung, zu Trauer macht hart, kalt und "vererbt" sich psychologisch und kulturell in die Breite einer Gesellschaft und in ihre Zukunft über Generationen.
Mit der Wiedergewinnung des Mitgefühls und der Betroffenheit ist jedoch keineswegs gemeint, dass wir unser Leben in Trauer, Schmerz und Bitterkeit beenden sollen. Das Gegenteil ist gemeint und ist der Fall. Trauern ist ein dynamischer Prozess, der angenommene Schmerz dauert eine relativ kurze Zeit im vergleich zum verewigten, nur schlecht verbissenen Schmerz. Wir gewinnen nach dieser inneren Seelenreinigung auch wieder inneren Frieden und erhalten die Fähigkeit zur Mitfreude zurück, wenn andere Menschen Glücksmomente erleben und wenn Gemeinschaften ihre festlichen und freudvollen Momente teilen. Wir sollten die Notwendigkeit des ethischen Weges mit tiefer individueller und kollektiver Selbsterfahrung nicht unterschätzen, sehen wir doch heute schon wieder, wie die geschichtlichen Lehren aus dem 20. Jahrhundert allein schon nicht mehr ausreichen, um nicht im 21. Jahrhundert wieder die gleichen Fehler mit teilweise noch furchtbareren Waffen in allen Ecken der Welt zu machen. Gleichzeitig vergessen wir die Erfahrungen unserer Vorfahren immer mehr und begreifen nur schlecht, was deren Menschlichkeit so verändert haben könnte.
Und dabei haben wir es demnächst mit noch viel gefährlicheren Dingen zu tun. Der Bau von Atom- und Wasserstoffbomben und die Nutzung von Uran und Plutonium zur Energiegewinnung in Kernkraftwerken erfordert nicht nur den strikten Verzicht auf einen kriegerischen Einsatz, sondern auch die sichere Verwahrung des Abfalls über eine Million Jahre. Die Strahlenvergiftung könnte das Leben auf dem Planeten nachhaltig verändern, sogar zerstören und es gibt Strategien und Ideologien, die die Anwendung furchtbarster Terrorwaffen gegen das Leben, sogar das eigene, zu legitimieren scheinen. Wir sollten spätestens bei diesen Gefahren auf die alten Mahnungen und Erfahrungen hören, denn während das barmherzige Göttliche auch in uns allen von den schädlichen Auswirkungen unbarmherziger Taten auf drei oder vier Generationen weiß, ist es dem Menschen heute möglich, tausende Generationen zu verderben. Ist es da zu viel verlangt, die eigene Schuld und die der Väter, Mütter, Großväter, Großmütter oder gar Urgroßeltern zu betrauern, zu bereuen, zu bedauern, sich um Vergebung und Gnade zu bemühen und vor allem um eine Neuausrichtung des eigenen Lebens und des Lebens in der Gemeinschaft, damit wir es einmal schaffen, tausend Generationen Frieden zu haben, wie uns auch verheißen wird,
Am Karsamstag, so lehren es die Evangelien der christlichen Bibel, geht einer als Erster und stellvertretend für die Menschheit ganz individuell und allein durch Leid und Tod, durch Unterwelt und Hölle, um am dritten Tag gereinigt und heil aufzuerstehen, wieder geboren in der Freude. Das ist allen geweissagt, die sich auf diesen Weg begeben, egal, welche ethischen, religiösen, philosophischen und psychologischen Bestärkungen sie dafür zu Rate ziehen.