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Brief meiner Tante vom 1.11.2008
Lieber Mischa,
dass ich keinen Geburtstag vergesse, dafür sorgt schon mein Computer in meinem Hirn!
Und gute Wünsche kann man immer gebrauchen, egal wie alt man ist, meine ich.
Heute möchte ich Dir etwas schicken, was ich diesen Sommer geschrieben habe. Ich wurde
nämlich aus Burgscheidungen (wo wir nach unserer Vertreibung bis zum Frühjahr 1947 lebten)
angefragt, ob ich nicht einen Beitrag für ein 'Buch der Erinnerungen' schreiben könnte, das
ein Lehrerehepaar aus dem Ort herausbringen möchte. Er sollte die Zeit vor der Vertreibung,
die Zeit der Vertreibung selbst und die anschliessende Zeit mit Ankunft und Aufnahme durch
die Bewohner in Burgscheidungen beinhalten. Was dabei herauskam, findest Du als Anlage dieser
Mail beigefügt.
Ich weiss, dass Du viel um die Ohren hast, aber vielleicht gibt es mal einen Moment in 'Deinen
dienstfreien Nachtstunden' und Du kannst die Geschichte lesen.
Für morgen wünsche ich Euch einen schönen Sonntag und grüsse herzlich
Helga
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Bericht meiner Tante vom Juli 2008
Beitrag zum Buch der Erinnerungen für Burgscheidungen
Mein Name ist Helga Schlicksbier. Ich wurde am 4. September 1934 in Klötten, Kreis Neutitschein (Sudetenland in der heutigen Tschechischen Republik) geboren.
Meine Brüder heißen: - Gottfried, geb. 25.08.1932 geb.in Pattersdorf/gest.2005 - Reinhold, geb. 03.08.1941 in Neutitschein.
Meine Eltern waren: Emma Schlicksbier, geb. Münster geb. 06.11.1911 in Klötten und Anton Schlicksbier geb. 08.04.1907 in Pattersdorf (Iglauer Sprachinsel).
Wir lebten zuletzt (1944/45) in der Kreisstadt Neutitschein (jetzt Nový Jicin) in Nordmähren. Mein Vater war seit Beginn des Krieges zur deutschen Wehrmacht eingezogen.
Als mit Beginn der Weihnachtsferien 1944 bei uns die Schulen aufgrund der immer näher rückenden russischen Front geschlossen wurden, zogen wir zu unserer Oma und Tante (ebenfalls 3 kleine Kinder) nach Klötten (jetzt Kletné) aufs Dorf. Dieses Dorf liegt ungefähr 25 km von Neutitschein entfernt. Wir erlebten dort im Mai 1945 auch den Einmarsch der Russen. Aufgrund der für eine Kriegsführung guten strategischen Lage des Dorfes (liegt auf einer Anhöhe) dauerten die Kampfhandlungen mehrere Tage, da der Ort dreimal vom deutschen Militär zurückerobert wurde. Auch danach blieben wir noch mehrere Wochen, gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern in Kartoffel-Kellern und Ställen versteckt, schon allein auch aus Angst vor Vergewaltigungen der Frauen. Einmal wollten wir uns des Nachts aus einem Keller davonstehlen, wurden ertappt und russische Soldaten stellten uns an die Wand, um uns zu erschießen! Sie taten es dann schließlich doch nicht, rissen uns aber die Beutel vom Hals, in denen wir alle unsere Dokumente verstaut hatten. Wir fanden sie dann einen Tag später als uns der Ausbruch glückte, im Hof im Dreck verstreut. Wir getrauten uns aber nicht, sie aufzulesen, so dass wir ohne jegliche gültige Papiere nach Deutschland kamen.
Einige Wochen blieben wir dann noch im Haus unserer Oma, doch nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte und auch die Plünderungen durch die tschechische Miliz in den Privat-häusern weniger wurden, gingen wir Mitte Juni 1945 (wohlgemerkt zu Fuß, da Deutschen verboten war, die Eisenbahn zu benutzen) wieder in unsere Stadtwohnung nach Neutitschein zurück. Kaum zwei Wochen dort erging eines Tages (Quellen sagen es war der 4. Juli 1945) an alle Kinder ab 10 Jahre und an alle Erwachsenen ab 60 Jahre die Aufforderung, sich mit kleinem Handgepäck (enthaltend Arbeitskleidung, Schlafdecke, Essgeschirr usw.) in den zugewiesenen Schulen zu versammeln. Angeblich sollten wir zur Ernteeinbringung eingesetzt werden. So brachte mich meine Mutter in die Mädchenrealschule, die ich zuletzt besucht hatte und mein älterer Bruder ging allein in seine Schule in Neutitschein. Sie selbst blieb mit meinem 3 1/2jährigen Bruder zu Hause. In der Nacht jedoch fuhren Lautsprecher durch die Stadt, die verkündeten, dass alle Deutschen, die nicht in einem festen Arbeitsverhältnis stünden (was durch vorher verteilte Ausweise nachzuweisen war) sich bis Mitternacht auf dem Stadtplatz einzufinden hätten. Auch die Mütter mit kleinen Kindern! Meine Mutter war in höchster Verzweiflung, wusste sie doch nicht, was mit ihren beiden grösseren Kindern passieren wird, wenn sie jetzt weggeht. Auch mein kleiner Bruder schrie angeblich stunden-lang nach seinen Geschwistern und wollte die Wohnung nicht verlassen. Aber sie hatten keine Wahl! Tschechische Milizen gingen von Haus zu Haus und von Tür zu Tür, um alle Deutschen einzusammeln und zum Marktplatz zu bringen. Wer sich widersetzte wurde mit Gewalt mitgenommen und so kam es, dass Menschen sich mit dem Nachthemd unterm Mantel und einer Handtasche an der Grenze wiederfanden!! Soviel ich weiß, war diese Art der Vertreibung, bei der die Menschen nur mit dem vertrieben wurden, was sie am Körper trugen, später verboten (1946 durften dann pro Person 50 kg mitgenommen werden) und diese Nacht vom 4. auf 5. Juli 1945 ging in die Geschichte als die PIRNA-NACHT ein. Warum dieser Name, ergibt sich aus dem späteren Geschehen.
Meine Mutter setzte also meinen kleinen Bruder in der Nacht in den Kinderwagen, verstaute in einem Korbkoffer sein leichtes Kinder-Federbettchen und einiges an Wäsche für ihn und sich selbst. Am Marktplatz hörte sie, dass Mütter mit Kleinkindern sich extra stellen sollten, da sie gefahren werden sollten. Wohin wusste keiner! Wir größeren Kinder aber und die Alten wurden gegen 4 Uhr früh in den Schulen geweckt und in einer Kolonne zu Fuß nach Zauchtel (Eisenbahnknotenpunkt) auf einen 20 km langen Marsch geschickt. Ich hatte das Glück, dass unsere Vermieterin aus Neutitschein (weil über 60 Jahre alt) sich auch in meiner Schule befand, so dass sie mir während des langen Fußmarsches aber auch dann während der schrecklichen Tage des Transportes bis zur Grenze immer tröstend beistand. Ich weiß nicht, wie ich diese Zeit sonst überstanden hätte, schließlich war ich erst ein Kind von etwas über 10 Jahren! Ich habe nicht das Gefühl, dass ich durch diese ganzen Ereignisse traumatisiert wurde, doch dass ich ab da mich nicht mehr als Kind fühlte, weiß ich noch heute. Auch habe ich kaum Einzelheiten vergessen können Als wir dann am Morgen in Zauchtel ankamen, stand da ein riesiger langer Zug mit oben offenen Viehwaggongs, in die wir rasch eingeladen wurden. Es herrschte ein heilloses Durch-einander am Gleis und alles musste sehr schnell gehen, so dass wir völlig ahnungslos die Reise ins Ungewisse antraten, nicht wissend, ob meine Mutter und meine Brüder mit im Zug sein würden.
Im Waggon herrschte eine erdrückende Enge. Am Boden war ein wenig Stroh eingestreut auf dem die Menschen verzweifelt kauerten. Die Erwachsenen rätselten während der Fahrt wohin die Reise wohl gehen würde, da sie ja über den Rand des Waggons hinaussehen konnten. Einige befürchteten, dass wir nach Sibirien verschleppt werden könnten, doch dann erkannten Ortskundige, dass der Zug Richtung Prag fuhr und nicht nach Osten. Nach ca. 3 Tagen und Nächten ununterbrochener Fahrt ohne essen und trinken, es sei denn was man dabei hatte ohne Notdurft-Verrichtung hielt der Zug plötzlich an und wir durften aussteigen. Unsere Vermieterin hatte schon während der Fahrt gehört, dass auch Eltern im Transport seien und so fingen wir an zu suchen. Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter meinen Namen rufen. Das war der glücklichste Augenblick in meinem Leben!!! Kurz darauf entdeckten wir einander und lagen uns weinend in den Armen. Auch meinen älteren Bruder hatten wir bald gefunden, hatte er sich doch auch bereits auf die Suche nach uns gemacht.
Der Ort, an dem wir ausgeladen wurden, hieß Herrnskretschen (jetzt Hrensko)) und von dort mussten wir noch bis Tetschen-Bodenbach (jetzt Decin) zu Fuß gehen. Dort angekommen, fielen wir auf einer Wiese im Freien nieder und schliefen wie ein Stein! Auch dieses Gefühl ist mir noch heute gegenwärtig, denn so müde war ich weder vorher noch nachher noch einmal in meinem Leben. Am nächsten Morgen öffneten die Tschechen die Schlagbäume an der Grenze zu Sachsen nicht ohne vorher das wenige Gepäck und die Kleidung, die jeder trug, nach Schmuck und Geld zu durchsuchen (Frauen mussten sich in einer Baracke ausziehen und die Haare öffnen!) Dann riefen sie uns nach: Jetzt seid ihr daheim im Reich! Aber alle diese Menschen wussten nicht wohin! Meine Mutter schloß sich dem Menschenstrom an, der zur Elbe strömte, denn dort lag ein Schiff mit Ziel PIRNA. Leider war es bei unserer Ankunft schon übervoll, doch meine Mutter war eine Kämpferin und sie überredete den Kapitän, so dass er uns im Maschinenraum mitfahren ließ.
Ich weiß nicht, wie lange das Schiff bis Pirna brauchte und ob wir zu essen oder zu trinken bekamen, jedenfalls nach Ankunft des Schiffes ergoss sich der Menschenstrom in die Stadt und wurde in die leeren Schulen eingewiesen. Doch nach wenigen Tagen mussten sie wieder geräumt werden und meine Mutter tat sich mit zwei anderen Frauen mit Kindern aus Neutit-schein zusammen und wir zogen mit vielen anderen Vertriebenen in eine leerstehende, noch nicht ganz fertiggestellte Schule auf dem Sonnenstein (= eine kleine Anhöhe in der Stadt). Die einzelnen Gebäude lagen verstreut in einem weitläufigen Park, doch fehlte in den Gebäuden jegliche Inneneinrichtung. Fenster waren zwar eingebaut, doch statt Türen musste man Bretter vor die Türöffnung stellen. Wir drei Familien (3 Frauen und 10 Kinder) belegten einen ca. 10 qm großen Raum d.h. es gab gerade soviel Platz, dass jeder sich am Boden ausstrecken konnte. Bretter als Unterlage, das Kinderfederbett meines kleinen Bruders als Kopfkissen für uns vier und die Arbeitsdecke, die jeder von uns mitgenommen hatte, dienten uns als Schlafstätte. Stühle oder Tische gab es nicht, diese Möbel hätten auch gar keinen Platz im Raum gehabt! Als Gemeinschaftsverpflegung gab es wohl täglich 1 Becher Suppe, doch enthielt sie oft nur gekochte Kartoffelschalen, schmeckte verdorben und war mit einem Wort ungenießbar. Die Menschen errichteten deshalb Behelfsöfen im Freien. Dazu wurden einige Ziegelsteine auf-geschichtet und Abdeckplatten organisiert. Es gab genügend zerbombte Fabriken in der Umgebung Pirnas, so dass wir auch Kochtöpfe auf Halden fanden. Meistens bestand unser Essen sowieso aus Fischmehl das einzige Lebensmittel, das man mit Geld kaufen konnte und geriebenen Kartoffeln. Aus diesem Teig formte man Plätzchen, die auf der Platte gebacken wurden. Die Kartoffeln hierzu, wie auch jedes andere Gemüse, mussten ebenfalls von den Feldernorganisiert werden zum Glück war es Sommer! War das mal nicht möglich, weil Flurwächter aufgestellt waren, dann gingen wir Kinder in die Umgebung betteln von Haus zu Haus, manchmal sogar bis Dresden. Ich erinnere mich, dass wir fast nie abgewiesen wurden, wenn ich mit meinem kleinen Bruder vor der Tür stand, sondern oft einen Teller warmer Suppe oder ein Stück Brot erhielten.
Wir Kinder waren uns tagsüber nämlich selbst überlassen, da Mutter bald nach Ankunft im Lager Sonnenstein in eine Fabrik zur Demontage von maschinellen Anlagen ging. Im Osten ließ der Russe alles was nur ging in den Fabriken abmontieren und nach Russland bringen. Mutter erhielt dort ¼ Liter Graupensuppe täglich und 100 g Schwarzbrot. Die Suppe aß sie selbst aber das Brot brachte sie uns mit. Meistens erhielt es derjenige, der sie am Feierabend am Fabriktor abpasste. Selbst mein kleiner Bruder büchste mir öfters aus und machte sich ganz allein dorthin auf den Weg, weil er schrecklichen Hunger hatte. Mein älterer Bruder (damals 13 Jahre alt), litt derart Hunger, dass er an Hungertyphus erkrankte und fast alle Kleinkinder bis zu 3 Jahren verstarben im Lager. Mutter wog zuletzt nur noch 36 kg!
Als der Herbst nahte und es klar war, dass die Menschen in den nicht beheizbaren Räumen im Winter dort nicht wohnen bleiben konnten, beschlossen die Behörden, die Menschen umzusiedeln, d.h. es wurden Schiffstransporte zusammengestellt, die uns weiter ins Innere von Sachsen brachten. Wir waren Ende Oktober/Anfang November 1945 für einen Transport vorgesehen. Die Fahrt ging ca. 6 Stunden elbaufwärts bis RIESA, dort weiter mit dem Zug über TORGAU nach MÜCHELN. In Mücheln erfolgte dann die Verteilung auf die einzelnen Ortschaften im damaligen Kreis Querfurt und wir wurden mit vielen anderen Personen Burgscheidungen zugeteilt. Bauern aus Burgscheidungen holten uns mit Pferdefuhrwerken ab und brachten uns ins Dorfgasthaus. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten dieses Abends, doch unvergessen ist mir das Gefühl der Wärme des Raumes und des Glücks über das warme Essen, das man uns zur Begrüßung servierte. Total ausgehungert stürzten wir uns auf alles, was man uns anbot. Durch unser Lagerleben waren wir aber normalem Essen völlig entwöhnt, so dass wir hinterher ziemliche Durchfallbeschwerden bekamen. Magen und Darm waren an Fett überhaupt nicht mehr gewöhnt!
Als es an die Verteilung des Wohnraums für die Angekommenen ging, wurde der Saal immer leerer, bis schließlich nur noch meine Mutter mit uns 3 Kindern übrig blieb. Anscheinend gab es im Dorf keine Unterkunft mehr für eine so große Familie, waren wir doch bereits der dritte Transport mit Heimatvertriebenen und Flüchtlingen, der von der kleinen Gemeinde Burgscheidungen aufgenommen werden musste. Schließlich bot uns einer der Bauern (Wilhelm Ziegler), die uns mit dem Pferdefuhrwerk von Mücheln abgeholt hatten, seine letzte freie Kammer an. Mehr hatte er nicht zu vergeben, denn vor einigen Wochen waren bei ihm auch schon Flüchtlinge einquartiert worden. Ich freute mich, dass wir jetzt auch gehen konnten und verstand die Aufregung meiner Mutter nicht, die heftig auf den Bürgermeister (Pocher) einredete, dabei weinte und abwechselnd meinen älteren Bruder und mich an sich drückte. Da ergriff plötzlich ein 16-jähriges Mädchen (Brunhilde Neumann), das beim Essen-austeilen geholfen hatte, meine Hand und erklärte, dass ich mit ihr kommen solle, da das Zimmer meiner Mutter beim Bauern Ziegler nur für 1 Bett Platz habe und das reiche gerade für sie selbst und meinen 4-jährigen Bruder Reinhold. Für meinen 2 Jahre älteren Bruder Gottfried fand sich dann auch noch eine Familie, die ihn aufnahm (den Namen habe ich leider vergessen). Doch blieb er dort nicht lange, da er sich schämte, das Bettlaken wegen des Durchfalls verschmutzt zu haben und so zog auch er zu Mutter ins Haus von Familie Ziegler, die auch noch für ihn irgendwie Platz schaffte.
Im Hause Ziegler erlebten wir auch das erste Weihnachtsfest in der Fremde. Mutter wollte wenigstens an Weihnachten alle ihre Kinder um sich haben und so gingen wir alle mit ihr in die evangelische Dorfkirche zum Gottesdienst. Eine katholische Kirche gab es nicht, da die einheimische Bevölkerung fast rein protestantisch war. Als wir aus der Kirche kamen, hatte Familie Ziegler uns einen kleinen Weihnachtsbaum geschmückt und angezündet ins Zimmer meiner Mutter gestellt und für jeden von uns lag ein Geschenk darunter. Leider entsinne ich mich nicht mehr an die einzelnen Geschenke, aber dass Herr Ziegler für meinen kleinen Bruder ein kleines Spielzeug-Pferdegespann hergerichtet hatte, weiß ich noch zu genau. Zu groß war die Freude meines Bruders, als dass ich das vergessen konnte! Wir größeren Kinder bekamen etwas zum Anziehen, glaube ich und natürlich standen da Esswaren, Gebäck und Stollen. Mutter weinte vor Freude und wir alle waren restlos glücklich! Auch das Dorf Burgscheidungen veranstaltete im Jahr 1945 an einem Sonntag vor Weihnachten im Saal des Gasthauses eine Weihnachtsfeier für uns Vertriebene. Wir Kinder bekamen Spiele und Spielzeug oder Schulsachen und meine Mutter einen großen Kochtopf. Natürlich gab es auch etwas zu essen und zu trinken und wieder hatte ich das Gefühl der Wärme und des Glücks und fühlte mich geborgen
Doch nun zurück zum Tag der Ankunft in Burgscheidungen. Für die Familie des Mädchens, das mich mitnahm, war ich an diesem Abend sicher eine echte Überraschung. Brunhilde Neumann hatte wohl spontan ihre Hilfe angeboten, als sie merkte, dass wir ohne Unterkunft blieben. Aber Frau und Herr Neumann hießen mich sofort herzlich willkommen. Sie führten mich bald nach oben in die einzige Schlafkammer für die ganze Familie und legten mich zu ihrem 8-jährigen Töchterchen Hildegard ins gleiche Bett, da kein anderes mehr zur Verfügung stand. Und sie behielten mich in dieser räumlichen Enge, doch mit großem, weitem Herzen während langer 6 Monate. Sie hätten mich am nächsten Tag ja zurückbringen können zum Bürgermeister, damit er sich kümmere. Oder sie hätten mich spätestens dann von sich weisen können, als ich alle Familienmitglieder mit Kopfläusen angesteckt hatte (obwohl wir vor dem Transport total entlaust worden waren!). Oder als ich die Bettlaken öfters verschmutzte, weil auch mein Darm kein normales Essen mehr vertrug. Sie haben es nicht getan, sondern mich gepflegt und behalten bis sie im Dorf eine in ihren Augen bessere Bleibe für mich gefunden hatten. Aber sie verstanden nicht so recht, warum ich mich nicht von Herzen darüber freute, obwohl diese neue Familie (Ihle/Konsum) mir doch neben einem eigenen Bett sogar ein eigenes Zimmer zur Verfügung stellen konnte!
Bei Familie Ihle blieb ich dann bis zu unserer Abreise in den Westen im März 1947. Sie besaß ein schönes Haus, die Kinder waren fast alle erwachsen bis auf den jüngsten Sohn Kurt mit 18 Jahren. Eine der drei Töchter (Ilse) war bereits verheiratet. Auch sie verlangten keinerlei Mithilfe von mir im Haushalt oder Konsum, lediglich das Markenkleben (Lebensmittel waren damals rationiert) und Hofkehren am Samstag waren meine Aufgaben. Beim Hofkehren half mir meistens mein kleiner Bruder und wurde dafür mit einem großen Stück Streuselkuchen von Frau Ihle belohnt, was ihn sehr glücklich machte! Ich konnte also, wenn ich meine Hausaufgaben gemacht hatte, meine ganze freie Zeit mit den Dorfkindern verbringen und wir spielten stundenlang auf den Dorfstrassen Ball, Seilhüpfen oder Himmel und Hölle alles Spiele mit festgelegten Regeln. Im Sommer gingen wir natürlich auch in die Unstrut baden und da passierte es einmal, dass ich vom Schwimmring abrutschte und unter meinen Füssen keinen Boden mehr spürte. Ich ging unter und jedes Mal wenn ich hochkam, schrie ich um Hilfe. Das hörten einige Jungen, die auf der Brücke standen und einer davon (ich glaube er hieß Gerhard Böttcher) sprang ins Wasser und zog mich raus!! Ich weiß nicht, was sonst passiert wäre! Mir ging es also sehr gut bei Familie Ihle und als wir im März 1947 zu meinem Vater, den wir inzwischen durch mehrere Briefe an seine alte Kriegsadresse (Fliegerhorst Linz/Österreich wiedergefunden hatten, in den Westen zogen (es war dafür eine Zuzugsgenehmigung nötig), hatte ich als einziges Familienmitglied ein Holzköfferchen voll Anziehsachen. Es waren vor allem hübsche Kleider, die mir Frau Ihle aus abgelegten Sachen ihrer Töchter bei einer Schneiderin nähen ließ. Familie Ihle bot meiner Mutter sogar an, mich bei ihnen zu lassen, da sie ja völlig ins Ungewisse reise anscheinend funktionierte damals schon die Propaganda über den schlimmen Westen!!
Mit der Ankunft in Burgscheidungen im November 1945 konnten wir nach fast einjähriger Abstinenz endlich wieder eine Schule besuchen. Es gab in Burgscheidungen damals eine Schule mit zwei Klassenräumen und ich kam in die 6. Klasse, mein zwei Jahre älterer Bruder Gottfried in die 8. Klasse, was aber keine Rolle spielte, da wir sowieso in einem Raum saßen. Unser Lehrer hieß FREY, aber für das Fach Russisch hatten wir einen anderen Lehrer, der sonst die unteren Klassen 1 4 unterrichtete. Leider habe ich seinen Namen nicht mehr in Erinnerung. Als Lehrer Frey vom Schicksal unserer Familie erfuhr, sorgte er dafür, dass meine Mutter mit meinen Brüdern die beiden Zimmer im 1. Stock des Schulhauses beziehen konnte und sie durch das Saubermachen der Schulräume etwas Geld verdiente. Leider konnte man für das Geld damals fast nichts kaufen. Lebensmittel, Kleidung, Schuhe alles war rationiert. Wie nötig hätte meine Familie damals Kleidung oder festes Schuhwerk gebraucht, da wir aus allem, was wir von daheim mitgebracht hatten, herausgewachsen waren. Kleidung und Schuhe gab es aber nur auf Bezugscheine und das waren dann keine Lederschuhe sondern Turnschuhe, bei denen halt dann, wenn der Fuß gewachsen war, die große Zehe sich ein Loch bohrte, um Platz zu haben. Ich erinnere mich im Juli 1945 mit Schuhgröße 35 nach Pirna gekommen zu sein und als wir im März 1947 in den Westen reisten, brauchte ich Größe 38. Dass es keine Lederschuhe gab, lag einfach daran, dass nach dem Krieg nichts produziert wurde. 1945 war Deutschland zerbombt, die meisten Fabriken lagen in Schutt und Asche und wenn nicht, montierte der Russe alle Einrichtungen und Maschinen ab und schaffte sie nach Russland. Es gab von daher kein Warenangebot (selbst Knöpfe und Faden waren Mangelware) und in dieses Chaos kamen zusätzlich Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die verköstigt, bekleidet und untergebracht werden mussten! Ich meine, dass damals sehr viel christliche Nächstenliebe von Seiten der einheimischen Bevölkerung praktiziert wurde. Aber es geschah alles im Stillen, ohne, dass es an die große Glocke gehängt wurde!
Wie ich bereits weiter oben schon erwähnte, waren Lebensmittel 1945 rationiert, so dass meine Mutter und meine Brüder mit dem Essen auf Marken sehr kärglich lebten. Gottfried war 13/14 Jahre alt und hatte ständig Hunger. Mutter teilte die Tagesration an Brot immer mit einer Einkerbung auf der Rückseite des Brotes ein, doch es geschah häufig, dass mein Bruder den Strich einfach nach unten versetzte und so noch eine dünne Scheibe abzweigte. Zum Mittagessen gab es oft nur Pellkartoffeln und rohe Zwiebeln. Sie hatten auch kein Heizmaterial für die 2-Zimmer-Wohnung in der Schule. Als rettender Engel erschien dann Gerhard Pocher, der in der Schule neben meinem Bruder saß. Obwohl er aus einer Familie mit 16 Kindern stammte, entlockte er seiner Mutter immer wieder Essbares und brachte es zu Schlicksbiers (Kartoffeln, Gemüse und auch mal ein Stück Fleisch, das angeblich die Katze in den Pfoten gehabt habe!) Und obwohl er der Sohn des Bürgermeisters von Burgscheidungen war, ging er heimlich mit meinem Bruder in das nahe Birkenwäldchen, um Holz für den Ofen zu schlagen. Es qualmte zwar fürchterlich, weil es nicht trocken war, doch ohne diese Hilfe wäre zur Mangelernährung noch das Frieren hinzugekommen. Als wir dann im März 1947 mit unseren Habseligkeiten zum Bahnhof nach Laucha gingen, um die Reise in den Westen anzutreten, da begleitete Gerhard Pocher uns zu Fuß entlang der Bahngleise von Burgscheidungen bis nach Laucha und half uns das Gepäck zu tragen. Mit dem Pferdegespann konnten wir leider nicht gefahren werden, da in diesem Frühjahr die Unstrut so starkes Hochwasser führte, dass die Strasse nach Laucha über die Brücke überschwemmt war. (Bei diesem Hochwasser kam sogar ein Pferdegespann in den Fluten um und man konnte es tagelang von der Brücke aus sehen wie es noch angeschirrt ertrunken unten am Grund lag). Ich hatte das Gefühl, dass Gerhard Pocher am liebsten ganz mit uns gekommen wäre, denn als der Zug sich in Bewegung setzte stand er immer noch auf dem Trittbrett und hatte Tränen in den Augen .
Tränen in den Augen hatte ich selbst auch oft in den ersten Wochen und Monaten im Westen (Schwabenland), denn ich hatte starkes Heimweh nach den Menschen, den Freundinnen und Schulkameraden, die ich in Burgscheidungen zurücklassen musste. Natürlich war die Freude groß über die Wiedervereinigung mit unserem Vater, aber er war uns durch die jahrelange Abwesenheit während des Krieges und danach doch etwas entfremdet und vor allem, er ersetzte mir ja nicht die Spielgefährten. Ich tat mir schwer mit den Bauernkindern Freundschaft zu schließen, zumal sie kaum Zeit zum Spielen hatten, da sie nach der Schule auf dem Hof mithelfen mussten. Dazu kam der fremde Dialekt (schwäbisch), den wir anfangs kaum verstanden und zum andern ihre Abneigung uns Flüchtlingskindern gegenüber, da wir in ihren Augen Habenichtse waren. In Burgscheidungen hatte ich diese negativen Gefühle nie, war ich doch in den beiden Familien Neumann und Ihle wie ein eigenes Kind aufgenommen und behandelt worden. Ich habe erst viele Jahre später als längst Erwachsene so richtig verstanden, was diese beiden Familien mir an Güte und Liebe zuteil werden ließen, indem sie mich bei sich aufnahmen. Sie taten es spontan, ohne Wenn und Aber, ohne Bedingungen und vor allem ohne jegliche Gegenleistung! Auch die übrigen Dorfbewohner unterstützten uns nach Kräften, einfach weil Menschen vor ihnen standen, die der Hilfe bedurften. Dafür schulden wir ihnen tausendfältigen Dank, der nie abgetragen werden kann!! Dass wir Burgscheidungen wieder verlassen mussten, war für mich als hätten wir unsere Heimat zum zweiten Mal aufgeben müssen
(Bad Mergentheim, Juli 200![]()
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