Ich habe bereits in diesem Forum über
"Eine Minute Unsinn - Weisheitsgeschichten", zusammen gestellt von dem früh verstorbenen indischen Jesuiten-Pater
Anthony de Mello (1931-1987), berichtet. Anthony de Mello hat Weisheitstraditionen aus seiner doch recht bunten, aus vielen geistigen Traditionen schöpfenden Heimat gesammelt und sozusagen im Sinne seiner christlichen Nächstenliebe international weiter gereicht und somit vielleicht ein wenig die Missionsrichtung umgedreht, von außen nach innen und von Osten nach Westen. Das
indische Goa, seine Heimat, war dafür wie prädestiniert, denn hier fand sich ein früher multikultureller Schmelztiegel. Hinduistische, buddhistische, muslimische und christliche Strömungen fanden in dieser reichen Küstenregion mit seiner natürlichen Hafenbucht zusammen und die jesuitischen Missionare, die mit den Portugiesen an dieser Küste landeten, breiteten sich in dieser kleinen portugiesischen Kolonie, die bis 1955 bestand, aus und begannen unter
Franz Xaver (eigentlich Francisco de Xavier) ihre Asienmission von Indien bis nach China, zu den Philippinen und nach Japan. Disziplinierte und kreative
jesuitische Gelehrsamkeit und
franziskanisches Armutsideal trafen auf eine reiche, auch schon multikulturelle indische Tradition.
Anthony de Mello wuchs in diesen Traditionen auf und wünschte sich schon als Kind und Schüler einer Jesuitenschule, in diesen Orden einzutreten. Als Buchautor und Weisheitslehrer äußerte er sich weniger in großen theologischen Schriften, sondern in vergleichsweise kurzen Weisheitsgeschichten und
Aussprüchen, eine typische Erzähl- und Literaturform des Orients, in der ähnlich wie in den westlichen Märchen und Fabeln pointiert menschliche Erfahrung und sie reflektierende Weisheit seit Jahrtausenden vermittelt wird. So sind übrigens auch von
Jesus von Nazareth selbst vor allem Gleichnisse, Spruchweisheiten und Aussprüche als Vermächtnis überliefert worden und ausdrücklich wollte der so überlieferte Jesus keine neue Religion entwerfen und auch kein irdisches Glaubensimperium, sondern die Worte der Schrift, gemeint war das ursprünglich jüdische "Alte Testament", "erfüllen". So ähnlich verstehen sich die
Aussprüche, Geschichten und Zitatensammlungen de Mello's, die so auch in der modernen Welt unterschiedlichste Menschen allen Glaubens und jeglicher Herkunft ansprachen und noch heute ansprechen, sogar hinduistisch und buddhistisch inspirierte Yogis, wie ich der
Rezeption einer Yoga-Schule entnehmen konnte. Die Geschichten, die Anthony de Mello erzählt, geben seine einfache, klare Denkweise, die nicht im Widerspruch zum Herzen steht, trefflich wieder. Dabei war er meist fröhlich, heiter und gelassen und gleichzeitig begeisterungsfähig. Er war dabei eher ein einfacher "Arbeiter im Weinberg des Herren", dem an theologischem Ruhm für eigene umwerfende Gedanken nicht gelegen war. Er wollte eine heitere, friedvolle, lebenspraktische Lehre von einem einfachen Glauben an die Menschlichkeit und wusste darum, dass nicht große und komplizierte Sätze und Weisheitsworte das Herz berühren, sondern die Energie, die zwischen oder hinter diesen Worten steht, mit ihnen transportiert wird und sich erst im Hörenden und mit dem Herzen Verstehenden nach einer Zeit der Versenkung des Nachsinnens selbst potenziert. Das Wort Gottes ist daher niemals eine schriftliche Zeile und niemals die wörtliche Rezitation einer heiligen Schrift. Das wissen die Mystiker aller Schulen und aller Religionen und dieses Wissen und Empfinden vereint sie.
Ich glaube heute an die Religion der guten Gedanken, Worte und Taten, die sich selbst erzieht und in sich selbst versenkt und aus einem tiefen Empfinden empor steigt und es vermag, Brücken zu anderen Menschen zu schlagen, ohne sie zu erobern, zu dominieren, zu verändern, zu bekehren. Das Berührende ergibt sich von selbst durch den, der berührt und den, der sich berühren lässt, allein, weil der Berührte es zulässt und nicht, weil der Berührende es will und weil es ein wechselseitiges Tasten ist, das zu ungestüme Neugier in liebevollen Respekt verwandelt. In den meisten Religionen haben Menschen zu aller Zeit die Ahnung entwickelt, das Menschen reinen, offenen Herzens Erlösung, Erleuchtung, Verwirklichung, eben das erlangen, was als Heil angesehen wird, unabhängig von ihrem spezifischen Glauben. Es gibt zwar die Auffassung, dass ein solcher guter Mensch, sobald er die "gute" oder "frohe Botschaft" ("Evangelium") der "richtigen Religion" (z.B. Katholizismus oder Islam) vernommen hat, auch zum "richtigen Glauben" übertreten muss, um in der "Wahrheit" zu leben und gerettet zu werden, doch stimmen nicht alle bedeutsamen "Religionsführer" darin überein. So hält es der derzeitige
XIV. Dalai Lama Tendzin Gyatsho, Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, für verdienstvoller, wenn sich Gläubige einer Religion nach ihrem Glaubenssystem um vollkommene Menschlichkeit bemühen, statt aus möglicherweise opportunistischen Gründen ohne sorgfältigste Prüfung zu einer anderen Religion, z.B. dem Buddhismus zu konvertieren. Das "Gute", das diese Menschen verwirklichen, strahlt aus ihnen heraus, es überstrahlt sie. Sie sind in der Regel von fröhlicher, freundlicher, friedlicher Grundstimmung, versöhnlich, begeisterungsfähig, bescheiden und dabei vor allem auch humorvoll. Der Humor, den sie verwirklichen, bezieht sich selbst mit ein. Sie können über sich selbst lachen. Sie werden nicht dadurch weniger, dass sie sich selbst, ihr "Ich", nicht so wichtig und ernst nehmen.
Dieser geistige Humor, den ich in den Weisheitsschriften und Erzählungen des Ostens und des Westens und aller Religionen gefunden habe, hat mich immer angesprochen. Er ist dem Humor eigener Träume verwandt, die mit kräftigen, zum Teil grotesken Bildern von einer inneren Wirklichkeit und einer verborgenen Wahrheit künden können. Dem Verstand sind die Botschaften oft nicht ohne Weiteres zugänglich. Es wird diese besondere Qualität der Herzsicht benötigt. Herzhafter Humor führt zu herzlichem Lachen. Um de Mello zu zitieren: "Kann etwas wirklich wahr sein, wenn niemand darüber lacht?" Die Wahrheit hat gut lachen und lacht mit. Sie ist so beschaffen, dass sie von der Lüge nicht beleidigt, sondern nur besser heraus gestellt werden kann. Wahrer Geist lässt sich keinen "heiligen Ernst" verordnen, in dem das erlöste Lächeln und das heitere Lachen keinen Raum mehr findet. Das kann Dogmatiker des Ernstes und der Würde aufregen. Den heiteren Weisen amüsiert es. Das Lachen und der Humor bringt alles in Gefahr, nur nicht die Wahrheit und das Herz. Deshalb zitterten Könige vor den Narren und deshalb fürchteten sich Hohepriester und ihre Kirchen und Religionen vor dem Lachen und dem Humor, so wir es
Umberto Eco in seinem mittelalterlichen Kloster-Roman
"Der Name der Rose" erzählte. Und so konnten auch die ersten menschlichen Götter fluchen, lachen, lieben und Geschichten erzählen.
Mich haben Geschichten angerührt und überzeugt, nicht heilige Schriften, obwohl ich mich mit vielen beschäftigt habe und davon inspirieren ließ. Die meisten "Heiligen Bücher" sind als Ganzes zu lang, zu streng, zu geschichtlich, zu langweilig. Nur durch die einzelnen Geschichten darin und zwischen den Worten findet man durch das Wortgestrüpp zu den Wahrheiten. Bei den kurzen Geschichten ist der Zugang in das Herz unter Umgehung des Verstandes direkter. Selbst Menschen anderer Kulturkreise verstehen die meisten kurzen Geschichten intuitiv schneller und besser, als theologische Traktate und lange mythologische Abhandlungen. Ich hätte zur Spiritualität und Weisheit islamischer Gelehrter niemals einen Zugang gefunden, wenn ich die Übersetzungen des Koran ins Deutsche dazu herangezogen hätte. Erst die Sufi-Geschichten von
Idries Shah und seiner Nachahmer, z. B.
Nossrat Peseschkian, Letzterer ein Psychiater und Psychotherapeut, brachten mir den esoterischen Islam der Sufi näher, den Einzigen, den ich mit Herz und Hirn verstehen kann. Genauso verhält es sich mit dem Judentum, dessen mystische Wurzeln mir aus den esoterischen Auffassungen der
Kabbala und dem davon beeinflussten
Chassidismus näher gebracht wurden und zwar zunächst ausschließlich in der Form der jiddischen Weisheitserzählungen, die so humorvoll und menschlich waren, dass sie Lachen und Weinen gleichzeitig hervorzuzaubern vermochten. Der Chassidismus wiederum brachte mich auf
Martin Buber und seine Philosophie vom dialogischen Menschen, die sich wieder mit den Theorien von
Sigmund Freuds Psychoanalyse verbinden lassen. Tatsächlich studierte Anthony de Mello auch Philosophie, Theologie und Psychologie, auch eine Ausbildung, die ich als geistesverwandt zu der Meinen empfinde. Geradezu therapeutisch wirkten für mich die chassidischen Geschichten in
Elie Wiesels Buch
"Geschichten gegen die Melancholie - die Weiheit chassidischer Meister"! Und als ich in der 5. und 6. Klasse auf eine Jesuitenschule ging, haben mich auch Geschichten, die Pater Abel vorlas, inspiriert und für das jesuitische Denken eingenommen. Später waren es die Schriften des jesuitischen Wissenschaftlers
Teilhard de Chardin, für den die Evolution nicht mehr im Gegensatz zum Gott der Bibel stand.
Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen zusammen wachsen. Die Globalisierung bewirkt auch ein globales Bewusstsein. Gleichzeitig ist es wichtig, neben unseren ähnlichen Gefühlen und Bedürfnissen auch unsere Vielgestaltigkeit und Vielfältigkeit zu begreifen. Wir sind uns ähnlich und auch verschieden. Geschichten vermögen das zu vermitteln. Wir erzählen ständig Geschichten über uns und Andere. Dahinter gilt es die Wahrheit über uns zu entdecken. Heutzutage bevorzuge ich keine bestimmte Religion mehr, sondern bewundere die Schönheit des menschlichen Geistes, wenn er von der Liebe für die Menschen und die Schöpfung berührt ist. Eine Weisheit, die dies gelernt hat und dies auch zum Ausdruck bringt, scheint mir am Geeignetsten, um diese Essenz zu empfangen und weiter zu geben, wieder in Form von Geschichten. Auch der berühmte indische Weisheitslehrer
Jiddu Krishnamurti machte in seinen einfachen, intelligenten, aus der unmittelbaren Anschauung genommenen Vorträgen von Geschichten und Gleichnissen Gebrauch. Weisheit ist eine durchaus ernstzunehmende Haltung, die Humor verträgt und Unwissenheit nicht mit Besserwissen bekämpft. Sie möchte niemals einem Menschen oder anderen Wesen schaden und ergibt und verschreibt sich keinem Fanatismus und keinem Fundamentalismus. Frauen und Männer haben gleichermaßen Zugang zur Weisheit des Herzens, die niemanden ausschließt. Daher ziehe ich es vor, Weisheitsgeschichten zu lesen und zu hören und zu erzählen, um weise zu werden und nicht religiös, um zu berühren und nicht zu überzeugen oder gar zu übertölpeln, um zur Heilung bei zu tragen und nicht um darüber zu predigen, was gesund und was krank ist, um zu lernen und nicht, um zu wissen. "Weisheit kann erlernt, aber nicht unterrichtet werden".
Früher gab es noch keine Psychotherapeuten im eigentlichen Sinne. Die Ärzte der Seele wahren weise Frauen und Männer, weise durch Erfahrung und Lebenskunst, die Geschichten erzählten, Fabeln, Parabeln, Märchen. Die Wissenschaft vom Leben stand gleichauf mit der Wissenschaft der Schriften. Die kleinen Erzählungen, die diese Weisheit tradierte, mussten nicht aufgeschrieben werden. Später hat man sie dann gesammelt. Die Weisheitsgeschichten gibt es in allen kulturellen und religiösen Traditionen und zum Teil gleicht sich manche Sufi-Geschichte fast auf ein Haar mit einer rabbinischen Geschichte oder einer Erzählung aus einem christlichen Kloster. Die Lehrer und Meister, wie weisen Frauen und Erzählerinnen, die ihre Hörer und Hörerinnen auf Plätzen, in Klöstern, Versammlungshallen, Palästen und an Krankenbetten, in Poststationen und Karawansereien unterhielten und aufmunterten, und deren Geschichten ich im Folgenden wiedergeben oder neu erfinden werde sind ganz verschiedene Menschen gewesen: christliche Mönche, buddhistische Lehrer, Zen-Meister, Sufi-Meister, Rabbiner, Mystiker, Priesterinnen aus allen Jahrhunderten und Kulturen. Heute werden die Geschichten wieder gezielt zur Seelenheilkunde verwendet und erzählt, z.B. vom erwähnten Nossrat Peseschkian. Und bis heute erläutern Gelehrte und Theologen mit Weisheitsgeschichten, die schon vor über tausend Jahren Lebenshilfe gaben, etwas vom Wesen des Menschseins: Es ist das Zuhören können. Unsere Augen und Ohren warten noch heute auf gute Geschichten. Diese Geschichten laden uns ein, sie in unserer Seele nachzuvollziehen und das heraus zu spüren, was noch heute zu uns sprechen kann, um uns erhabenen Trost und weisen Rat zu geben. Ab und zu will ich ein paar davon erzählen, denn was wäre eine Welt ohne Geschichten? Täglich entstehen sie vor unseren Augen und Ohren. Wir müssen sie nur hören und erzählen.
Michael
Aus den Weisheitsgeschichten von Anthony de Mello:
Gleichnisse und Geschichten
Der Meister lehrte meistens in Gleichnissen und Geschichten. Jemand fragte einen seiner Schüler, woher er sie habe. "Von Gott", erwiderte er. "Wenn Gott dich zum Heiler bestimmt, schickt er dir Patienten; wenn er dich zum Lehrer macht, schickt er dir Schüler; wenn er dich zum Meister beruft, gibt er dir Geschichten."