Was ist zu beachten, wenn man sich zur Verordnung eines ADHS-Medikamentes entschließt?
Frage: Was heißt das über die medikamentöse Behandlung von psychischen Problemen Gesagte konkret für die Verordnung von so genannten ADHS-Medikamenten an Kinder?
Antwort Michael Schlicksbier-Hepp: Das heißt, dass eine schonungslose, wahrheitsgemäße Aufklärung der verantwortlichen Eltern über das Wesen dieser vorübergehenden medikamentösen Hilfe und die Notwendigkeit der begleitenden medizinischen Kontrollen wegen der Nebenwirkungen und über den Nutzen einer Psychotherapie und Familientherapie erforderlich ist, damit eine wirkliche Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen kann. Und die Kinder sind ihrem Alter gemäß in diese Abklärung einzubeziehen denn diese schlucken schließlich diese Medikamente, in ihnen entfalten sich Wirkungen, Nebenwirkungen und Spätwirkungen und sie machen sich Gedanken darüber, empfinden eine Medikation manchmal als Strafe oder Beweis, dass sie nicht in Ordnung sind, für psychisch krank gehalten werden oder lernen, dass man für innere Probleme am besten Pillen einnehmen soll, wobei sie ja oftmals gar nicht merken, dass sie ein Problem haben, sondern zunächst, dass andere mit ihrem Verhalten ein Problem haben. Bevor man die Medikation beginnt, fragt man sich nach den Zielsymptomen und danach, was geschehen muss, um die Medikamente wieder abzusetzen. Man macht sich klar, dass es hier nicht um eine lebenslange Substitution gehen kann und dass man zwischenzeitig lernen kann und sollte, ohne ein Medikament zu leben. Wenn man vorher noch keine psychotherapeutischen und pädagogischen Hilfen in Anspruch genommen hat, beginnt man zunächst damit, zu überprüfen, ob diese Hilfen nicht vielleicht nützlicher und zielgerichteter sind und schaut, ob das Medikament dann überhaupt noch nötig ist. Auch die Umgebung eines Kindes, die auf ein Medikament drängt, sollte sich fragen, ob tatsächlich das Kind das Einzige ist, das sein Verhalten ändern muss oder ob es Veränderungsmöglichkeiten im System gibt, in das das Kind eingebunden ist.
Das Medikament eignet sich eher als letztes, zusätzliches Mittel um einen völligen Abstieg in Schule und Gesellschaft vorübergehend zu stoppen und eine Verschnaufpause zu gönnen, falls sich das Kind und die Eltern unter dem Symptomdruck und dem Druck der Umwelt als völlige Versager und total hilflos vorkommen. Natürlich: Bevor Eltern ihre Kinder völlig verstoßen, Kinder ihre Eltern umbringen und umgekehrt oder Kinder von allen Schulen verwiesen werden, ist das Medikament das kleinere Übel, denn so schnell wird sich einem Individuum zuliebe die Institution Schule oder eine Familie nicht verändern. Man kann aber auch nicht grundsätzlich sagen, dass eine Medikation immer besser ist, damit eine therapeutische Trennung von der Familie oder ein Schulwechsel vermieden wird, eine Frage, die bei als schwer erträglich eingestuftem Verhalten ebenfalls sehr oft auftaucht. Manchmal ist eine vorübergehende oder dauerhafte Trennung und ein Schulwechsel nicht zu vermeiden und doch hilfreich, wobei es auch dabei darauf ankommt, wie es begründet und vermittelt wird, sodass alle Beteiligten darin etwas Sinnvolles und Hilfreiches sehen können.
Es ist immer wichtig, den ganzen Menschen, das ganze System in dem er lebt, Familie, Schule, und die ganze Bedeutung der Symptomatologie zu betrachten. Welche Stärken und Ressourcen haben der Index-Patient und das Familiensystem oder die Schule, die ich noch ermutigen kann, um von der einseitigen negativen Symptomschau weg zu kommen? Welche Vorteile erbringt oder erbrachte das Symptom und was hat sich seitdem im Leben geändert? Was steht zu erwarten, wenn dieses Symptom schließlich verschwindet? Ohne eine Antwort auf diese Fragen ist die Verordnung einer symptomatischen Medizin gewagt. Welche Dosis ist gerade nötig, um die größte Bedrängnis abzumildern, ohne den Hilfe auslösenden bzw. nach Heilung rufenden Schmerz ganz zum verstummen zu bringen? Welche Nebenwirkungen, Risiken und lästige Kontrollen hält man noch für vertretbar? Welche Beteiligten werden wie mit einbezogen und informiert? Wer entscheidet bei Veränderungen und über die Beendigung der Therapie mit? Werden unseriöse Hoffnungen und Versprechen auf die Zukunft ausgelöst und damit anderen Fehlhaltungen Vorschub geleistet?
Hat man all diese Fragen gewissenhaft abgearbeitet und stellt es sich dann so dar, dass unter den gegebenen Bedingungen eine zusätzlich Medikamentenverordnung für einen gewissen Zeitraum nicht nur hilfreich sein kann sondern man nur schwer darauf verzichten könnte, um schwere soziale Nachteile abzuwenden und sind die dagegen abzuwiegenden persönlichen Nachteile und Risiken durch das Medikament eher gering, kann der Arzt, am besten ein Facharzt für Kinderheilkunde oder besser Kinder- und Jugendpsychiatrie nach entsprechender Aufklärung der Patienten und der Eltern eine Verordnung von Stimulanzien für ein Kind mit einer gesicherten ADHS-Diagnose vornehmen, wobei eine regelmäßige ärztliche Begleitung mit Überprüfung des Nutzens wie etwaiger unerwünschter Nebenwirkungen selbstverständlich sein sollte, um gegebenenfalls die Dosis anzupassen und auch den Zeitpunkt nicht zu verpassen, an dem man das Medikament wieder verringern und eventuell auch wieder absetzen kann. Und natürlich sollte die Beobachtung auch den Beweis erbringen, dass das Medikament überhaupt in die richtige Richtung wirkt.
Bei der Auswahl der Medikamente ist hinsichtlich der Substanz und der Darreichungsform Verschiedenes zu beachten. Grundsätzlich kennt man die Stimulanz Methylphenidat erheblich länger als Atomoxetin und kann daher deren Wirkungen und Nebenwirkungen besser abschätzen. Die behaupteten Vorteile von Atomoxetin sind zunächst einmal vorallem in der Werbung dargestellt worden. Ob sich das in der Realität bei nicht unerheblichen Nebenwirkungen (insbes. innere Angespanntheit, Aggressivität, Gewalt- und Selbstbeschädigungsphantasien bis zu Suizdgedanken bei Behandlungsbeginn) nachweisen läßt, bleibt abzuwarten. Tatsächlich haben einige Patienten, die mit dem Medikament zu uns kamen, schon über solche Nebenwirkungen gesprochen. Es sei alles viel schlimmer geworden. Manche Ärzte haben bei ungenügender Wirksamkeit des Methylphenidat - es soll unter den ADHS-Betroffenen bis zu 30 % so genannten Non-Responder auf Methylphenidat geben - nach Aufdosierung zusätzlich Atomoxetin gegeben. Vor solchen Mischmedikationen möchte ich warnen, sie sind absolut experimentell. Dass ein so genannter ADHS-Patient auf Methylphenidat überhaupt nicht reagiert, muss neben Zweifel an der Diagnose vorallem auch Zweifel an der biochemischen Ätiologie der beschriebenen ADHS-Symptomatik wecken. Oft fehlt es bei der Beobachtung auch an der Geduld bzw. die Leute glauben, das Medikament mache alles und sind dann enttäuscht, wenn dieses die Wirkung nicht geradezu erzwingt. Dies veranlasst viele Verordner zu raschen Aufsättigungen mit hohen Dosierungen, mit denen der Körper dann regelrecht kämpft.
Ich hatte einen Patienten, bei dem ich mal an der ADHS-Diagnose nicht gezweifelt, die Medikation aber jahrelang mit guten Gründen nicht vorgenommen, sondern andere Unterstützungswege gefunden habe, zumal die Eltern das Medikament auch nicht vorbehaltlos wollten. Irgendwann genügte es den Eltern nicht mehr, die im Übrigen auch nicht aus ihrer Haut konnten und Teil des Problems wie der Lösung waren. Sie wollten wissen, ob sie etwas versäumten und gaben schweren Herzens das Medikament und wir fanden eine vernünftige, mittlere und gut wirksame Dosierung, die langsam eingeschlichen wurde. Erst war die Reaktion fast begeistert sowohl beim Patienten als auch bei der Familie. Nach ein paar Wochen hielten der vierzehnjährige Patient und die Eltern es nicht mehr aus. Trotz der positiven Auswirkung auf die Konzentration, Ausdauer, das Gesprächs- und Sozialverhalten plagten den Patienten ständige Bauchschmerzen und eine gewisse Anspannung und Wesensveränderung, die er nicht mochte. Nach der Schule war er immer völlig erschöpft und ausgelutscht, schien alle physischen und psychischen Kraftreserven auf einmal verbraucht zu haben und musste sich blass und eingefallen erst mal hinlegen. Abends kam der Appetit aber mit vollem Bauch schlief er schlecht. Kurzum, die Leute setzten das Medikament wieder ab. Aber sie haben es wenigstens einmal ausprobiert, sagen sie heute und wissen jetzt, warum dies die Lösung nicht war.
Bei Methylphenidat bin ich weiterhin dafür, trotz einer Aufhebung dieser Vorsichtsmaßnahmen durch eine Empfehlungs-Kommission von Fachleuten im Auftrag der Bundesärztekammer, bestimmte Dosisgrenzwerte nicht zu überschreiten und sich vorsichtig an die wirksame minimalste Dosis heranzutasten. Schon mit 0,5 mg Methylphenidat-HCl pro kg Körpergewicht hat man in der Regel deutliche Wirkungen und die Dosis muss zunächst einschleichend angesetzt und vorsichtig erhöht werden und übrigens auch langsam wieder abgesetzt werden, wenn man unangenehme "Rebound-Phänomene" und "Absetz-Phänomene" vermeiden will. Die Höchstdosis, die wir zulassen, ist 1 mg je kg Körpergewicht und nicht über 60 mg total im Kindes- und Jugendalter. Geschick und Erfahrung benötigt man, um die optimale Darreichungsform (retardiert, sofort wirksam, eine Mischung von beidem) für den beabsichtigten Zweck zu finden sowie den besten Einnahmezeitpunkt. Anhaltspunkte über Wirkungsweisen von ADHS-Medikamenten und Vorsichtsmaßnahmen bei deren Anwendung finden sich auch in diesem Forum unter dem Stichwort:
"Wissenschaftliche" ADHS-Erklärung des Medizinestablishments: Fehlende Abgrenzung zu Big-Pharma?